Rezension: „Das Genie“ (Klaus Cäsar Zehrer)

Bücher, die von realen Personen handeln, die zudem noch intelligenter als der Durchschnittsmensch sind, finde ich besonders spannend. Wenn es sich dann auch noch um Romane und nicht um Biografien handelt, ist mein Interesse noch größer. Als ich auf der Leipziger Buchmesse das Herbstprogramm vorgestellt bekam, stach „Das Genie“ deshalb besonders heraus.

Vielen Dank an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

(Foto: S. Schückel)

Inhalt:

Die Geschichte von William James Sidis, einem Wunderkind mit außerordentlicher Intelligenz, ist auch die Geschichte seines Vaters, Boris Sidis, der – als bekannter Psychologe – den Anspruch hegt, die Bildungswelt zu revolutionieren. Sein eigener Sohn, William James, wird sein größtes Experiment. Bereits kurz nach seiner Geburt beginnt die Sidis-Methode, ein spezielles Lernprogramm, das ermöglicht, die Intelligenz von Kindern so zu fördern, dass deren kognitive Leistungen die von „normalen“ Kindern in den Schatten stellen. William James Sidis kann so mit nur 18 Monaten bereits Lesen und durchläuft später die Schule in Rekordzeit. Er wird als „Wunderjunge von Harvard“ gefeiert und alle Welt schaut auf ihn – was ihn zunehmend verstört und schließlich dazu führt, dass er mit seinen Eltern und seiner Vergangenheit bricht.

Mein Eindruck:

Die Geschichte, die Klaus Cäsar Zehrer erzählt, beginnt an einer vielleicht zunächst unerwarteten Stelle, nämlich weit vor William James‘ Geburt: an dem Tag, an dem Boris Sidis in die Vereinigten Staaten kommt und sich in New York City zurecht finden muss. Zehrer zeigt direkt in diesen ersten Szenen auf interessante Weise, wie anders Boris Sidis denkt und wie sehr er nicht in die Zeit zu passen scheint, in der er lebt. Während die Gesellschaft um Sidis herum sich entweder nur darum sorgt, genügend Arbeit zu haben, um irgendwie über die Runden zu kommen, oder aber noch reicher zu werden, strebt Sidis lediglich nach der Vermehrung seines Wissens.

Wissen ist Macht, so heißt es, aber auch daran ist Sidis nicht interessiert. Das höchste Gut ist für ihn der Erkenntnisgewinn selbst und so wendet er sich schließlich einer Fachrichtung zu, die damals noch in den Kinderschuhen steckte: Der Psychologie. Dort, so seine Annahme, ist das Potential des Erkenntnisgewinns noch am größten. So, wie Sidis die Gesellschaft für ihre Geldgier verachtet, strebt er auch nach einer Gesellschaft, in der Bildung als höchstes Gut anerkannt ist. Dadurch lautet sein logischer Schluss, dass er bei der Bildung seines eigenen Sohnes den Grundstein für diese Zukunft legen muss. Eben diese Welt voller rationaler und sehr kalt wirkender Logik, in der Sidis denkt, stellt Klaus Cäsar Zehrer auf beeindruckende Weise dar. Sowieso zieht sich die Psychologie auf sehr geschickte Weise wie ein roter Faden durch das gesamte Buch – angefangen bei Boris‘ ersten Forschungen bis hin zu dem, was seine Experimente schließlich aus seinem Sohn machen.

Hin- und hergerissen zwischen Zustimmung zur Notwendigkeit eines guten Bildungssystems und der Ablehnung der offensichtlich extremen Herangehensweise, kann man das Buch kaum zur Seite legen. Gerade in der Darstellung der extremen Erziehungsmethoden gelingt es Zehrer, ohne spürbaren Bruch zur Lebensgeschichte von William James Sidis überzuleiten und den Leser zum kritischen Beobachter der Sidis-Erziehungsmethode werden zu lassen. Boris und William James sind sich auf gewisse Weise sehr ähnlich, denn beide möchten – mit aller Konsequenz – nur die Dinge tun, an denen sie Freude haben. Durch die Zweiteilung des Buches in die Geschichte von Boris einerseits und in die von William James andererseits, gelingt es Zehrer, die Parallelen ebenso deutlich werden zu lassen wie auch die Unterschiede zwischen diesen beiden Persönlichkeiten herauszuarbeiten.

Ganz klar ist stets, dass es sich keineswegs um eine Biografie von Vater und Sohn handelt. Und dennoch gelingt es Zehrer – nicht zuletzt auch durch eine sehr einnehmende Erzählweise – diese fiktive Biografie so zu gestalten, dass man sich in Vater und Sohn problemlos hineinversetzen kann. Vielleicht waren Boris und William James Sidis nicht wirklich so, wie Zehrer es beschreibt, aber er lässt seine Figuren stets glaubhaft wirken.

Die Fragen, die sich beim Lesen unweigerlich stellen, sind auch heute noch aktuell und sorgen dafür, dass keine der über 600 Seiten langweilig wird: Wann bringt man den eigenen Kindern welche Fertigkeiten und Kenntnisse bei? Was überfordert sie, was sorgt für Probleme in der Schule / mit Gleichaltrigen? Wie werden Kinder zu guten Menschen – und was ist überhaupt ein guter Mensch?

Fazit:

Klaus Cäsar Zehrer hat in „Das Genie“ zwei tatsächlichen Persönlicheiten nicht nur so viel Leben eingehaucht, dass man als Leser in dieser Geschichte völlig versinken kann. Er hat zudem ein Buch geschrieben, das auch in der stets aktuellen Debatte um Bildung – insbesondere frühkindliche Bildung – eine interessante Perspektive aufzeigt. Zehrer unterhält seine Leser und er lässt sie nachdenken. Mehr kann man sich von einem Buch nicht wünschen.

5 von 5 Sternen.

Mehr zum Buch:*

Auch andere Blogger haben schon Rezensionen zu diesem Buch geschrieben, u.a.:

Jules Leseecke || Angelika liest || Julia Jordan ||

  • Preis: 25 €
  • Gebundene Ausgabe: 656 Seiten
  • Verlag: Diogenes; Auflage: 2 (23. August 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3257069987
  • ISBN-13: 978-3257069983

 

 

8 Gedanken zu “Rezension: „Das Genie“ (Klaus Cäsar Zehrer)

    • Hallo Torsten 🙂

      das kommt darauf an, welche Klassenstufe Du meinst. Ich finde, in der 9./10. Klasse geht das Buch sehr gut und – wenn das möglich ist – könnte man es in der Fächerkombi Deutsch/Geschichte/Ethik (oder Religion, je nach dem) durchnehmen.
      Falls Du noch mehr Inspiration brauchst: „funny girl“ ist ebenfalls für die Schule sehr empfehlenswert (ähnliche Klassenstufe). Die Rezension findest Du auch hier auf dem Blog 🙂

      Ich würde mich sehr freuen, wenn Du mal berichtest, ob die Bücher (oder eines davon) es in die Schule geschafft haben 😉
      Liebe Grüße
      Sarah

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