[Rezensionsexemplar]
“Ich muss bei diesem Buch immer öfter grinsen. Alle drei Seiten eine Formulierung, bei der ich denke: Na? Neurodivergent?”
Diesen Satz schrieb ich beim Lesen von “Zauberhafte Aussichten” von Stella Benson (in der Übersetzung von Marie Isabel Matthews-Schlinzig) an eine Freundin.
Aber lasst mich erst einmal erzählen, worum es geht:
Sarah Brown, eine junge Frau, engagiert sich während des Ersten Weltkriegs für wohltätige Zwecke. In eine Komiteesitzung für diese Wohltätigkeiten platzt eine Hexe herein und was folgt sind ein paar wahrlich abenteuerliche Tage. Sarah wird eingeladen, das “Haus Alleinleben” zu besuchen und dort unterzukommen. Sie und ihr Hund David ziehen ein, begegnen der Mitbewohnerin Peony und dem Besen Harold. Nicht nur die Hexe und ihr Besen bringen Magie in Sarahs neuen Alltag, sie begegnet auch Richard, einem Zauberer, dessen Mutter ebenfalls in der Komiteesitzung war.
Die Vielfalt der Figuren – sowohl der magischen als auch der nicht-magischen – wirkt hier vermutlich erst einmal wie eine recht willkürliche Liste. Im Buch fügen sich alle Personen – und Gegenstände – aber so kunstvoll ein, dass sie auch dank der grandios übersetzten Sprecheigenheiten sehr greifbar sind. Ich hatte mehrfach das Gefühl, die Figuren könnten gleich vom digitalen Papier heraus in den Raum treten.
Das Buch erschien zuerst 1919 – bevor es jetzt erneut in der Reihe der rororo-Entdeckungen herausgegeben wurde. Magda Birkmann, eine der beiden Herausgeberinnen der Reihe, beschreibt den Roman im Nachwort als
eigenwillige[n], jegliche Genregrenzen sprengende[n] Roman über eine Hexe im London zur Zeit der Ersten Weltkriegs […]
pos. 2297
Beim Lesen des Nachwortes musste ich erneut grinsen. Denn ja, das Buch ist eigenwillig – aber es liest sich auch erstaunlich vertraut. Ich fand mich in einer Art Leserausch wieder: Die vielen Gedankensprünge der Figuren, die beinahe schwallartigen Beschreibungen zwischendurch, die trotz langer Passagen einen unheimlichen Drive und Sog haben und die absolut logischen aber dennoch – für wohl viele – unkonventionellen Beschreibungen. Gerade die Art und Weise, wie das Innenleben mancher Figuren beschrieben wird, hielt mir auf erstaunliche Weise einen Spiegel vor.
Im Nachhinein ist es müßig zu spekulieren, aber wenn ein Buch in diesem Jahr meinen Neurodivergenzen-Radar angeworfen hat, dann ist es dieses. Gerade die magischen Figuren, die ihre Magie zum Teil zu maskieren versuchen, schienen mir auf sehr eindeutige Weise nicht neurotypisch zu sein.
Ich schrieb der Freundin sogar einmal folgende Zeilen: “Ich frage mich, wie viele Frauen/Autorinnen die letzten Jahrhunderte mit allem möglichen diagnostiziert wurden und am Ende waren sie einfach neurospicy. Ich möchte jetzt am liebsten Literaturwissenschaft studieren und dazu meine Doktorarbeit schreiben.” (Falls das jemand mit wissenschaftlichen Ambitionen liest: Meldet Euch.)
Unabhängig vom Betriebssystem eurer Gehirne – also egal ob ihr neurotypisch oder neurodivergent seid – ist dieses Buch absolut lohnenswert. Es ist sozialkritisch, hat Fantasy-Elemente, ist witzig ohne Ende und liest sich wirklich wie im Rausch. Große Empfehlung!
Und falls ihr Tipps für weitere Bücher dieser Art habt: Immer her damit!