„Mein Name ist… ich bin die Enkelin von E., sie ist am… verstorben.“
Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz ausgesprochen habe. Wie oft ich mich so vorgestellt habe, als ich in der Bürokratie dieses Landes Zuflucht vor den Wellen der Trauer suchte. Ich habe mich wohl nach ihrem Tod häufiger als ihre Enkelin vorgestellt als davor. Das ist so ein Gedanke, der mich manchmal Nachts wach hält. Wie auch die Frage, ob ich überhaupt noch Enkelin sagen kann.
Es gibt kein Wort für Enkelkinder, die keine Großeltern mehr haben.
Aber ich bin so ein Enkelkind. Einige meiner Großeltern habe ich bereits verloren, da war ich noch gar nicht auf dieser Welt. Und E., die für mich immer nur E. war, war meine letzte Verbindung zu dieser Generation.
Ich habe ihre Nummer noch immer in meinem Handy gespeichert – vermutlich ist sie längst anders vergeben. Aber manchmal tröstet mich der Gedanke, ich könnte sie anrufen. Die Existenz der Telefonnummer besiegt jede reale Unmöglichkeit. Zumindest manchmal. Zumindest in meinem Kopf. Zumindest für einen Moment.
Und dann denke ich unweigerlich an all die Fragen, die ich nicht mehr stellen kann. Fragen, die kein Telefonat dieser Welt beantwortet.
E., wie war das damals?
E., wie hast du das geschafft?
E., bist du stolz auf mich?
Die Fragen stehen stellvertretend für alle Fragen an meine Groß- und Urgroßeltern, an all die Menschen, deren Haare, Augen, Nasen, Münder ich in meinem Spiegelbild oder meinem Faible für Goethe-Zitate, für Zahlen, für Musik, für Gartenarbeit zu erahnen glaube.
Ich möchte sie so vieles fragen. Möchte Rat. Möchte manchmal nur ein kitschiges „Ach Kindchen, das wird alles.“
„Liebe Enkel – oder die Kunst der Zuversicht“ heißt Gabriele von Arnims neues Buch.
Es ist ein kleines Bändchen, ein Brief an die Enkelgeneration. Gabriele von Arnim ist zehn Jahre jünger als E. Und doch konnte ich das Buch nicht anders lesen als mit den Augen der Enkelin, die keine Großeltern mehr hat, manche nie kennenlernen durfte und sich manchmal nichts sehnlicher wünscht, als den Telefonhörer zur Hand zu nehmen.
Zuversicht. Angesichts der anhaltenden Katastrophen.
Zuversicht. Angesichts der Risse in unserer Gesellschaft.
Zuversicht. Angesichts der Dauerbeschallung aus Horrormeldungen.
Geht das überhaupt?
Gabriele von Arnim sagt: Man kann es üben. Man muss es üben.
Einfach ist es nicht, auch das ist klar. Zuversicht und Hoffnung – wo hört das eine auf, wo beginnt das andere? Beides ist nicht vergebens, das wird beim Lesen klar.
Sie schreibt von Wölfen, von denen wir zwei in uns tragen. Von dem, der hungrig auf Schwarzmalerei ist. Und von dem, der sich durch Freude und zuversichtliches Denken und Tun nährt. Sie sagt: „Jeden Tag müssen wir uns entscheiden, welchen Wolf in uns wir füttern.“ (S. 21)
Sie zitiert Hilde Domin und Albert Camus und lauter weitere kluge Menschen. Sie schreibt, wie Zuversicht eine tägliche Arbeit ist. Wie man Zuversicht wie Blumen wässern und düngen muss, damit sie nicht welkt, sondern blüht.
Sie schreibt, wie wichtig Zärtlichkeit ist. „Zart sein mit der Kreatur und mit sich selbst.“ (S. 74)
Dieses Buch ist kein „Ach Kindchen, das wird alles.“, ist in keiner Weise kitschig und doch… Ihr „Brief an die Enkel“ liest sich wie eine mutmachende Umarmung. Auch für diejenigen von uns, die das Glück der Großeltern längst verloren geglaubt haben. Wie passend, dass Gabriele von Arnim ihren Brief mit diesen Worten beendet:
„Seid in dem Sinne sehr sommerlich umarmt!
S. 76
Von Eurer Großmutter“