Rezension: „Das Mädchen auf der Himmelsbrücke“ (Eeva-Liisa Manner, Ü: Maximilian Murmann)

Es war einmal…

S. 7

Ich habe lange keine Märchen mehr gelesen. „Das Mädchen auf der Himmelsbrücke“ von Eeva-Liisa Manner, übersetzt aus dem Finnischen von Maximilian Murmann beginnt jedoch mit diesen aus Märchen geläufigen Worten.

Leena, die Hauptfigur im Buch, hört im Laufe der Geschichte Orgelmusik von Bach und ist davon so berührt, dass die Welt nach diesem Erlebnis eine andere ist. Ich muss an dieser Stelle zugeben, dass ich die Musik von Johann Sebastian Bach nicht wirklich mag.

Doch eigentlich ist diese Geschichte gar kein Märchen und eigentlich ist es auch egal, dass die Musik, die Leena hört, von Bach stammt. Es ist eine Geschichte die viel mehr zu erzählen scheint, als auf dem Papier geschrieben steht. Ich hoffe ich kann dem jetzt hier mit meinen Worten hier gerecht werden.

Vielen Dank an den Guggolz Verlag, der mir das Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Foto des Buches auf weißem Grund. Im Vordergrund unscharf Blumen, die den weißen Blumen auf dem Cover ähneln. Rest des Covers in blau.

Kleine Welt – große Wirkung

Leenas Welt ist relativ klein und wirkt beinahe ärmlich. Sie lebt bei ihrer Großmutter, ihre Mutter starb kurz nach ihrer Geburt, der Vater ist ebenfalls kein Teil ihres Lebens. „Großmutter sagt, dass er trinkt.“ (S. 14) Ansonsten hat sie noch einen Onkel, der ihr Briefe schreibt. Sie geht zur Schule, fürchtet sich aber vor der Lehrerin, die dort ein eisernes Regiment führt.

Über all die Menschen in ihrem Leben denkt Leena beinahe analytisch nach, so als wären es lediglich Figuren in einer Geschichte, die sie lesen oder hören würde. Dabei ist ihr Denken gleichzeitig auch typisch kindlich: Realität und Fiktion, Fantasie und wirkliche Ereignisse vermischen sich in ihrer Herangehensweise an die Welt. Bei mir weckte das beim Lesen Erinnerungen an meine eigene Kindheit und Erlebnisse, von denen ich bis heute nicht weiß, ob sie nur meiner Fantasie entsprangen, oder wirklich so passiert sind.

Inmitten dieser kleinen Welt, in der Leena lebt, entdeckt sie plötzlich etwas, das viel größer ist, als alles, was sie bisher kannte: Sie hört Orgelmusik, die in einer Kirche gespielt wird. Und egal wie man nun zu Bach stehen mag (wie gesagt, ich kann mit seiner Musik nichts anfangen), kennen wir doch wohl – hoffentlich – alle die Wirkung von wirklich guter Musik. Musik, die uns auf eine ganz besondere Weise berührt und die anders ist als andere Eindrücke. Für Leena öffnet sich in diesem Moment eine ganz neue Welt. Ihr sonst so trister und grauer Alltag wird plötzlich durch Musik untermalt – sie findet Bach überall, vor allem jedoch im Regen.

Musik ist für Leena ab diesem Moment ein alltägliches Wunder, für sie sind Gott und Bach durch das Erlebnis an der Kirche quasi eins. An manchen Stellen mag das Buch dadurch vielleicht ein wenig sehr religiös wirken. Nun bin ich selber Christin, kann also – wenn auch auf andere Art – verstehen, wie Leena die Welt wahrnimmt. Allerdings denke ich auch, dass Nicht-Gläubige bzw. diejenigen, die nicht an den christlichen Gott glauben, ebenfalls die Faszination Leenas an der Musik nachvollziehen können. Musik – egal in welcher Form – berührt uns wohl alle. Ähnlich, wie Bachs Musik den Grauschleier von Leenas Welt zu nehmen scheint, hat mir dieses Buch wieder einmal gezeigt, wie Literatur das ebenso zu tun vermag.

Aus der Zeit gefallen und doch zeitgemäß…

… unsere Stadt ist eine Traum gewordene Wahrheit. Sie ist vollkommen, weil sie aufgehört hat zu existieren; sie ist ewig, weil sie tot ist.

S. 7

Es ist eine Art Zeitreise, die ich beim Lesen dieses Buches erlebt habe und die schon zu Beginn durch die Autorin selbst angedeutet wird. Antje Rávik Strubel schreibt in ihrem Nachwort, dass alle Romane Eeva-Liisa Manners mit „den Sphären des Wirklichen und der Fantasie, den Sphären des Erlebten und des Erinnerten, des Erfahrenen und Erträumten […]“ (S. 142) spielen. Genau diese Loslösung von aller menschlichen Zerrissenheit und allen aktuellen – und so akuten – Problemen ist es, was mich beim Lesen so fasziniert hat. Mir hat diese vergleichsweise kurze Geschichte wieder einmal gezeigt, was Literatur kann: Sie kann mich innerhalb von wenigen Worten aus meinem ganz persönlichen Kosmos hinauskatapultieren, mir andere Welten zeigen und vermag es, einen Zauber zu vermitteln, der auch dann nachhallt, wenn ich schon längst wieder aus den Seiten aufgetaucht bin.

Dieses Buch ist traurig und hoffnungsvoll, kindlich und weise, und vor allem ganz anders, als man es auf der jeweiligen Seite erwartet. Vieles berührt, manches verwirrt und doch konnte ich nicht aufhören zu lesen. Manches kannte ich – die strenge ungerechte Lehrerin war mir erschreckend nah – und doch ist Leenas Blick auf die Welt so ist so unbekannt, dass sich eine neue Welt auftat.

Ich zumindest blicke nun auf leiseste Geräusche mit neuen Ohren und Augen – und ja, das gilt auch für die Musik von Bach. Hoffentlich wird Maximilian Murmann auch die anderen Romane von Eeva-Liisa Manner übersetzen.

Falls Ihr jetzt neugierig seid, findet Ihr hier auf der Webseite des Verlags auch eine Leseprobe.

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