Wann es anfing, dass Musik überall in meinem Leben auftauchte – oder mir bewusst wurde – weiß ich nicht. Es ist ein relativ neues Phänomen. Eines, das mich nun auch beim Lesen überrascht hat, denn das Buch „Singe ich, tanzen die Berge“ hat nicht nur einen Titel, der an Musik denken lässt. Es ist ein Buch, das selbst wie eine Melodie daher kommt.
Übersetzt hat Petra Zickmann aus dem Katalanischen.
Vielen Dank an den Trabanten Verlag, der mir das Rezensionsexemplar zukommen ließ.
Prosa – und doch irgendwie Lyrik
Wie melodisch Sprache sein kann, hat mir die Lyrik gezeigt. Dieses Buch ist definitiv keine Lyrik und doch erinnerte es mich sehr daran. Vielleicht, weil jedes Kapitel wie die Strophe eines Liedes daherkommt.
Es beginnt mit einem Unwetter, das dem Familienvater Domènec erschlägt. Und gleich in diesem Kapitel – dieser ersten Strophe – zeigt sich, was dieses Buch kann: Die Naturgewalten, in denen Domènec stirbt, sind eine eigene Figur. Die Geschichte spielt immer an diesem Ort, einem Dorf in den Pyrenäen, wo Domenècs kleine Familie lebt. Von Kapitel zu Kapitel wechselt man die Perspektive, mal auf die eine Figur, mal auf die andere. Man liest aus dem Blickwinkel von Pilzen, von Rehen und mystischen Wasserfrauen, deren Geschichte Jahrhunderte zurückliegt. Das Besondere daran ist, dass Figuren, die in einem Kapitel nur am Rande erwähnt werden, an späterer Stelle im Buch die Hauptfigur darstellen.
Irene Solà verwebt in diesem Roman kurze und manchmal ungewöhnliche Momente an ein und demselben Ort zu einer Geschichte, die sich in ihrer Gesamtheit wie in Worte gegossene Musik anfühlt. Das klingt vermutlich völlig abstrakt und abgehoben, die Geschichte ist das aber überhaupt nicht. Im Gegenteil. Ich war sofort in dieser Welt drin, mochte das Buch kaum aus der Hand legen und hätte gerne noch weitere 100 Seiten gelesen.
Literatur wie ein Gebirge
Es gibt ein Kapitel, das direkt aus Sicht des Gebirges – der Pyrenäen- geschrieben ist. Im ersten Moment mag diese Perspektive absurd erscheinen. Nach kurzer Zeit hatte ich mich beim Lesen jedoch so sehr an die verschiedenen Blickwinkel gewöhnt, dass ich solch ein Kapitel fast erwartet hatte. Ich glaube zwar, dass die gedruckte Form des Buches die plattentektonische Skizzen besser wiedergibt, aber die Seitenumbrüche auf dem eReader unterstrichen sozusagen die Faltung der Gesteinsmassen.
Ähnlich, wie sich bei Gebirgen verschiedene Gesteinsschichten übereinander lagern (an dieser Stelle korrigiert bitte nicht meine vermutlich geologisch fragwürdige Metapher), schichtet Irene Solà mit jedem Kapitel eine weitere Schicht auf ihre Erzählung. Dadurch ergibt sich eine faszinierende Tiefe auch bei den Figuren. Obwohl sie nur ein Kapitel lang ins „Scheinwerferlicht“ der Geschichte geholt werden, gelingt es Solà, alle Charaktere plastisch zu zeichnen. Vermutlich gelingt es ihr bei den menschlichen Figuren umso besser, weil sie auch die Natur „sprechen“ lässt.
Alles in allem ist „Singe ich, tanzen die Berge“ ein faszinierendes Buch, das ich aus meiner Lesebiografie nicht mehr missen möchte. Es ist mystisch, voller weiser Einblicke in das Leben und am liebsten würde ich jetzt durch die Pyrenäen wandern.