(Rezensionsexemplar / Danke Frankfurter Verlagsanstalt)
Liebe S.,
erinnerst Du Dich an „Ein Löwe in der Bibliothek“? Das Buch – von Michelle Knudsen, das Seraina Maria Sievi übersetzt hat – habe ich Dir gefühlt unendlich oft vorgelesen. Es gibt sogar ein Video, da liest Du mir ein kleines Stück vor. Das war das erste Mal, dass Du mir etwas vorgelesen hast und es ist eine meiner schönsten Erinnerungen.
Inzwischen ist es lange her, dass wir den Löwen in der Bibliothek besucht haben. Du bist älter geworden, dieser Löwe darf nun Urlaub machen.
Als ich aber sah, dass es ein anderes Buch mit einem Löwen gibt, musste ich sofort an Dich denken. Nino Haratischwili kennst Du nicht. Sie hat eines der besten Bücher geschrieben, die ich bisher gelesen habe. Erinnerst Du Dich an Frau Ocelot, an Maria? Sie ist eine der Lieblingsautorinnen von ihr. Und dank Maria habe ich ihr neues Buch – das mit dem Löwen – entdeckt.
Ach meine liebe S.
Wie gerne würde ich Dir dieses Buch vorlesen. Vermutlich würdest Du Dich erst einmal wundern, denn es ist ja ein Theaterstück. Das heißt, viel von der Handlung müssen wir uns vorstellen, weil sie nicht beschrieben wird. Jede Schauspielerin auf der Bühne kann selbst entscheiden, wie etwas gespielt wird. Das machen sie zusammen mit ihren Kolleginnen und denen, die ein Theaterstück auf die Bühne bringen.
Aber man kann Theaterstücke auch einfach so lesen. Ich mache das sehr gerne. Das ist so etwas, was mir an Pflichtbüchern in der Schule Spaß gemacht hat. Weil man sich vorstellen kann, wie man selbst eine Rolle spielen würde.
Ich glaube, Du hättest auch Deinen Spaß an diesem Theaterstück. Allein der Löwe… Ich bin mir sicher, Du würdest sofort an Carl denken. Ich habe nämlich auch sofort ihn in der Rolle des Löwen vor Augen gehabt. Unser frecher Carl mit der zu langen Mähne! Das wäre sicher witzig!
Aber witzig ist das Buch nicht immer. Oft ist es traurig – und damit kommen wir zu dem Problem, das ich jetzt habe. Ein Buch ist oft am Ende voller schöner Momente und voller Hoffnung, wenn es davor vieles gibt, was beim Lesen eher traurig macht. Und so sehr ich Dir die schönen Momente zeigen möchte, so schwer fällt es mir, Dir das Traurige vorzulesen.
Denn das Buch steckt zwar voller Fantasie und Magie – aber es zeigt uns auch die schmerzhaften Seiten unserer Welt. Und an diesen Seiten trage ich als Erwachsene eine Mitschuld, liebe S. So sehr ich mir auch eine andere bessere Welt wünsche, so unmöglich scheint sie doch. Da gibt es Kinder, die nicht in die Schule dürfen, sondern arbeiten müssen. Kinder, die heiraten müssen. Kinder, die ihre Eltern verlieren. Kinder, die nicht Kind sein dürfen.
Es ist Zufall, dass Du in diesem sicheren Land lebst und Kind sein darfst. Es ist Zufall, dass ich das gleiche Glück hatte. Aber wir Erwachsenen sind es, die dafür sorgen müssten, dass die Welt für alle Kinder besser wird – damit es eben nicht mehr eine Sache des Zufalls ist.
Meine liebe S., ich möchte Dir dieses Buch vorlesen und ich möchte es Dir vorenthalten. Ich möchte Dir die wunderschönen Illustrationen von Julia B. Nowikowa zeigen, weil ich weiß wie gerne Du malst und wie sehr das und Nino Haratischwilis Text Deine Fantasie beflügeln würde. Aber ich möchte Dir nicht jetzt schon die Gewichte der Schattenseiten dieser Welt in die Hand geben. Das ist furchtbar naiv und vermutlich falsch von mir, das weiß ich. Ich kann Dich nicht vor der harten Welt da draußen bewahren. Früher oder später wirst Du sie kennenlernen – zum Teil kennst Du sie sogar schon. Und vermutlich wäre es sogar gut, Dir diese Geschichte vorzulesen – eben weil sie so voller Hoffnung ist. Eben weil die Kinder in diesem Theaterstück auch mir den Glauben an eine bessere Zukunft zurückgeben. Wie mag sich das dann für Dich anfühlen, die Du von vornherein unerschütterlich und optimistisch in die Zukunft blickst? Dazu all die fantasievollen Elemente für Deinen ohnehin kreativen Kopf… an sich, liebe S., ist dieses Buch perfekt für Dich.
Ich hoffe, ich finde den Mut – den Löwenherzenmut – es Dir bald vorzulesen.
Deine Sarah