In vielen Diskussionen über Frauenfiguren in der Literatur lese oder höre ich, dass „starke Frauenfiguren“ gefordert werden. Diese Formulierung wollte in meinem Kopf nie so richtig passen, weil ich als Frau eben nicht immer stark bin. Im Gegenteil: Ich bin manchmal hoch verdammt schwach. Das macht mich aber nicht sofort zur metaphorischen „damsel in distress“, die auf den Ritter, dessen seinen Gaul und die eigene schnellstmögliche Rettung wartet.
Ich scheitere halt ab und zu – und das ist völlig okay. Ab und zu scheitere ich halt auch nicht. Mein Wunsch ist, dass die Literatur genau solche Figuren zeigt: Figuren, deren Scheitern kein Tabu ist und deren Scheitern schon mal gleich gar nichts über ihren Wert als Mensch aussagt. Figuren, die einfach realistisch sind.
Genau so eine Figur – so eine Frauenfigur – habe ich in Stine Pilgaards „Meter pro Sekunde“ gefunden.
Übersetzt wurde das Buch von Hinrich Schmidt-Henkel und zum Teil auch von Frank Heibert – dazu aber später mehr. Es erscheint heute im Kanon Verlag, der mir das Buch als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Eines vorweg: Ich liebe und hasse es, wenn Figuren keinen Vornamen haben, oder nur Spitznamen durch andere Figuren bekommen. Da ich mir Namen sehr schlecht merken kann, ist es beim Lesen richtig angenehm. Beim Rezensieren von Büchern dagegen ist es ein Graus, denn ich habe permanent das Gefühl, ich hätte den Namen nur überlesen. Falls das an dieser Stelle so sein sollte: Sorry.
Quasselstrippe trifft auf einsilbige Mitmenschen
Das Buch führt eine junge dreiköpfige Familie nach Westjütland. Dort arbeitet der Mann in einer Heimvolkshochschule und die junge Mutter gilt als „Anhang“, der ebenfalls Beschäftigung finden muss. Kurzerhand wird ihr die Aufgabe übertragen, den Kummerkasten der lokalen Zeitung zu betreuen. Während ihr Lebenspartner sich immer mehr einlebt, die Schulleiterin ihnen dringend die Ehe ans Herz legt und mahnt, dem Kind endlich einen Namen zu geben, besagtes Kind nur „muh“ zu allem sagen will und die Protagonistin selbst immer wieder an der Wortkargheit ihrer Mitmenschen scheitert, gibt sie fremden Menschen also Rat in Beziehungsfragen. Und versucht mit Hilfe vieler verschiedener Fahrlehrer*innen endlich den Führerschein zu machen.
Fehlende Sprache ist ein zentrales Element dieses sprachlich so wunderbaren Buches. Die Protagonistin, die ebenfalls ohne Namen daherkommt, scheitert immer wieder an der Kommunikation mit ihren Mitmenschen. Die Gespräche funktionieren nicht, weil sie selbst sehr schnell sehr viele Details von sich preisgibt, während ihre Mitmenschen subtiler, indirekter und wesentlich wortkarger kommunizieren.
Als Quasselstrippe mit norddeutschen Wurzeln in der Familie kenne ich dieses Dilemma nur zu gut. Mich persönlich rettet ja oft meine introvertierte Art – zumindest was den Umgang mit flüchtigen Bekanntschaften anbelangt – aber wer mich genauer kennt, fragt sich auch, wo das Klischee der schweigsamen Nordlichter geblieben ist.
Wesentlich besser funktioniert für die Protagonistin der Kummerkasten: Auch dort gibt sie sehr viel von ihren eigenen Erfahrungen preis. Diese sind jedoch ein Mittel zum Zweck. Die an sie schreibenden Personen sollen durch diese Beispiele eine andere Perspektive vermittelt bekommen. Der Rat des Kummerkastens ist somit weniger eine Bedienungsanleitung, wie Probleme zu lösen sind, sondern vielmehr eine Einladung, mit frischem Blick an sie heranzugehen.
Realistische Frauen: Stärken, Schwächen, scheitern, siegen
Wie eingangs erwähnt, hat mich die Protagonistin als realistische Frauenfigur begeistert. Sie hat Macken, ganz klar. Aber sie kann was. Sie macht als Mutter nicht alles richtig, auch klar. Aber sie liebt ihr Kind und gibt ihr bestes. Und bei allen Zweifeln: Sie gibt nicht auf.
In den Abschnitten des Kummerkastens wird deutlich, dass sie einen sehr sanften Blick auf ihre Menschen hat, selbst bei moralisch schwierigen Fragen. Sie kennt die Dilemmata, in denen man als Mensch stecken kann und selbst wenn sie strenge Antworten gibt und ermahnt, schwingt dennoch immer Verständnis in ihren Worten mit.
Auf die gleiche Art und Weise, wenngleich es viel subtiler herauszulesen ist, geht sie mit sich selbst um. Sie weiß um ihre Fehlbarkeit, weiß aber auch, dass Perfektion einfach nicht drin ist. Also sucht sie selbst Rat – bei Freundinnen wie auch Fahrlehrer*innen, bei Vertrauten und schließlich bei einem angesehenen Journalisten, den sie als Experten ansieht, was Kommunikation mit anderen Menschen anbelangt.
Mit viel Humor begegnet sie den Fettnäpfchen, in die sie unweigerlich tritt. Und ihre „freischwebenden Assoziationen“ (S. 184), die jedes Gespräch innerhalb von Sekunden von unverfänglichen Themen hin zu teils intimsten Bemerkungen führen, sind unheimlich amüsant zu lesen. Mich erinnerten sie zudem ein wenig an meine eigenen Assoziationsketten, die mein Umfeld so manches Mal schon überrascht haben.
Kurzum: Diese Frau ist unfassbar realistisch dargestellt. Immer wieder hatte ich das Gefühl, eine Bekannte zu haben, die diese Erlebnisse mit mir teilt – und dabei war es „nur“ ein Buch. Ich liebe diesen Effekt beim lesen und kann das Buch nur wärmsten empfehlen!
Ein Wort zur Übersetzung
Übersetzer*innen leisten Großartiges, wenn sie nicht nur die Worte, sondern auch das Gefühl, das in diesen Worten mitschwingt, aus einer anderen Sprache übertragen. Wie komplex diese Arbeit ist, wird spätestens bei der Anmerkung des Übersetzers, Hinrich Schmidt-Henkel, deutlich:
Für die Liedtexte im Buch, die ebenfalls aus dem Dänischen zu übertragen waren, gibt es kein deutsches Äquivalent. Wir haben kein Liederbuch, dessen Inhalt wir bei allen möglichen Festen in großer Runde anstimmen. Also hat Hinrich Schmidt-Henkel nicht nur den Sinn der dänischen Worte ins Deutsche übertragen. Frank Heibert hat diese Worte dann genommen, in Deutschland gut bekannte Lieder gesucht und die Übersetzung an deren Melodien angepasst.
Bitte wie grandios ist Übersetzungsarbeit?