Rezension: „Der Schimmelreiter“ (Theodor Storm)

Vor diesem Buch bin ich lange zurückgeschreckt. Der Grund war nicht etwa, dass „Der Schimmelreiter“ als Klassiker gilt und hohe Erwartungen weckt oder Schullektüre und damit langweilig war. Vielmehr war es meine große Schwester, die mir in der siebten oder achten Klasse riet, für „Die Judenbuche“ als Pflichtlektüre zu stimmen, da „Der Schimmelreiter“ zu gruselig sei. Als Beleg dafür sagte sie mir, ich müsse nicht mehr wissen, als dass in Deichen etwas Lebendiges vergraben sein müsse, damit diese halten.

Nun war ich damals noch recht leicht von gruseligen Geschichten abzubringen und so neugierig ich auch auf diese Novelle war, ich traute mich einfach nicht. Mich brachte letztlich ein Besuch an der Nordsee dann dazu, meine Angst zu überwinden – denn wer tagtäglich Deiche auf- und abläuft, kann sich nicht von einer Grusel-Anekdote der Schwester beeindrucken lassen.

(Foto: S. Schückel)

Inhalt:

Im Zentrum der Novelle steht Hauke Haien, eine fiktive Persönlichkeit, die an der Nordfriesischen Küste lebt. Dessen Lebensgeschichte, die aus dem einfachen Sohn eines Landvermessers einen Deichgrafen mit ungeahnten Ambitionen macht, erzählt ein Schulmeister einem namenlosen Reiter, der in einer Sturmnacht Schutz in einem Wirtshaus sucht.

Hauke Haien fällt schon als Junge dadurch auf, dass er sich gerne mit Mathematik beschäftigt und nicht so recht zu den Gleichaltrigen passen will. Er wird Kleinknecht des alten Deichgrafen Tede Volkerts, verscherzt es sich mit dem Großknecht aber sorgt dafür, dass die Arbeit des Deichgrafen an Ansehen gewinnt. Nach dem Tod des alten Deichgrafen heiratet er dessen Tochter Elke und wird selbst Deichgraf – muss sich aber im Dorf immer nachsagen lassen, dass er nur wegen seiner Frau Deichgraf geworden ist. Entgegen aller Widerstände strebt Hauke Haien deshalb einen neuen Deichbau an und dieser Deich soll auf Jahrhunderte gegen die Naturgewalten bestehen.

Mein Eindruck:

Allein schon die Sprache Theodor Storms nimmt einen mit in ein Nordfriesland, das wesentlich rauher ist als das heutige zu sein scheint und in dem die Sicherheit der Bevölkerung durch die Deiche nicht unbedingt gegeben war. Auch heute können die Deiche noch brechen, doch damals war die Gefahr wesentlich größer. Diese Bedrohung durch die Nordsee ist in jeder Zeile spürbar.

Hauke Haien selbst ist eine Figur, die zunächst beeindruckt, denn er bringt sich alles selbst bei, strebt danach, Verbesserungen für das Dorf zu bewirken und seine Erkenntnisse über Deiche zu nutzen, in dem er sie sicherer macht. Doch Storm beschreibt einen Mann, der auch eine dunklere Seite hat. Die Kritik, er hätte es nur dank seiner Ehefrau zum Deichgrafen gebracht, lässt ihn nicht kalt. Das ist zunächst zutiefst menschlich und doch wird nach und nach deutlich, welch manischen Züge sein Stolz annimmt.

Ist das Buch so gruselig, wie meine Schwester es dargestellt hat? Nein. Es zeigt zwar, wie bedrohlich die Nordsee sein kann und dass der Blanke Hans (so der Name der Nordsee bei Sturm) eine Naturgewalt ist, die den Menschen in die Knie zwingt, aber „Der Schimmelreiter“ ist keine reine Gruselgeschichte, auch wenn die damaligen Gespenstergeschichten Storm inspiriert haben. Vielmehr ist es eine Geschichte, die wunderbar das Gefühl eines Herbststurmes an der Nordsee transportiert und bei der man es sich – glücklich über das eigene sichere Zuhause – mit einem Tee auf dem Sofa gemütlich machen kann.

Blick aufs offene Meer hinaus, Wattboden im Vordergrund, Wolken am Himmel, sonst Sonnenschein

(Foto: S. Schückel)

Fazit:

Die vielschichtigen Bilder, die Storm in der Novelle zeichnet, lassen viel Raum für Interpretationen und machen so auch jedes erneute Lesen spannend. Der Schimmelreiter“ gehört wohl zu den bekanntesten Werken von Theodor Storm und jeder, der sich für die Nordsee begeistern kann, sollte sie gelesen haben. Und wer, wie ich, Angst davor hat, dass die Novelle gruselig ist, der sei beruhigt, denn gruselig geht nun wirklich anders.

5 von 5 Sternen.

Mehr zum Buch:*

  • Preis: 3 €
  • Taschenbuch: 160 Seiten
  • Verlag: Reclam Verlag (23. Juli 2012)
  • ISBN: 978-3-15-006015-5

7 Gedanken zu “Rezension: „Der Schimmelreiter“ (Theodor Storm)

  1. Ich finde das Buch auch nicht gruselig, aber wenn ich zurückdenke, was ich früher als gruselig befand, dann zweifele ich etwas an meiner früheren Verfassung. Mit 13 habe ich die Chroniken der Unsterblichen von Hohlbein verschlungen, aber Arthur Conan Doyle war mir zu heftig. Versteh einer diese Logik 😀
    Ich glaube den Schimmelreiter haben wir nicht in der Schule gelesen, Stattdessen haben wir beim Thema Novelle, das Buch „Kleider machen Leute“ von Gottfried Keller gelesen.

    Liebe Grüße, Anja

    • Liebe Anja,

      ja das geht mir auch so. Was mir als Teenager gefallen hat ist für mich heute teilweise ein Rätsel – und doch sind es schöne Erinnerungen. Eigenartig, nicht wahr, wie wir über die Jahre immer andere Menschen werden und doch tief drin auch gleich bleiben?

      Oje, ich werde philosophisch 😉 Deshalb schnell zurück zu den Büchern. Ja, die Novelle haben wir auch gelesen und „Die Judenbuche“ – halt statt des Schimmelreiters. Beides war eher nicht so meins…

      Liebe Grüße
      Sarah

  2. Danke für das Zurückbringen von ein wenig Kindheit damals mit dem „Schimmelreiter“ im Unterricht. Bei uns war es Pflichtlektüre, die ich (wie eigentlich alles) gern gelesen habe.
    […]“SCHIMMELREITER
    So nannten die Marschbauern ihn.
    Und noch heut kann man ihn – in stürmischen Nächten –
    über den Deich reiten sehn.“…
    Ach, wie ich da heute noch Gänsehaut bekomme und mich wohlig fühle.
    Einen schönen Abend (mit denken ans Meer),
    Simone.

  3. Pingback: [Die Sonntagsleserin] September 2017 | Phantásienreisen

  4. Hallo Sarah, den Schimmelreiter habe ich damals in der Schule gelesen und ich fand es gar nicht so schlimm. Mich haben eher die Naturgewalten beeindruckt und mir gehörigen Respekt abgenötigt 😉
    Liebe #litnetzwerk- und Folge-Grüße, Heike

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