Vor Kurzem habe ich Euch mit ins antike Griechenland genommen. Dort geht es auch heute hin, da mich die Geschichten noch immer faszinieren. Wie Ihr dem letzten Blogbeitrag zu „Antigone“ entnehmen konntet, hat es mir das Werk von Sophokles angetan. Der Ausgangspunkt dabei war „König Ödipus“ in der Theateradaption von Bodo Wartke. Und um genau diese Geschichte soll es heute gehen. Der Splitter Verlag – vielen Dank dafür – hat mir den Comic „Œdipus“ als Rezensionsexemplar* zukommen lassen. Passend zur „Antigone“-Dreifachrezension hier also meine Eindrücke zu drei verschiedenen Ausgaben des „Ödipus“.
Ödipus – die Frage nach dem Schicksal
Hört man den Namen „Ödipus“, denken viele wohl an den Ödipus Komplex, den der Psychoanalytiker Freud beschrieb. Grob gesagt besteht der Komplex darin, dass der Sohn ein verdrängtes sexuelles Interesse an der eigenen Mutter entwickelt und deshalb versucht, sich seines Vaters zu entledigen. Die Geschichte hinter dieser Theorie Freuds, nämlich der antike Mythos, ist wesentlich komplexer (verzeiht bitte das Wortspiel).
Die zentrale Frage, um die sich im durch Sophokles Stück übermittelten Mythos alles dreht, ist, ob das eigene Schicksal verändert werden kann. Sowohl Ödipus, als auch sein leiblicher Vater, Laios, erhalten ein Prophezeiung. Die des Laios lautet, dass er, sollte er einen Sohn bekommen, von diesem eines Tages erschlagen würde. Die des Ödipus lautet, er würde eines Tages seinen Vater erschlagen und seine Mutter ehelichen.
Letztlich führt das verhalten des Laios nach dieser Prophezeiung dazu, dass sich beide Orakelsprüche. bewahrheiten werden: Er lässt seinen gerade erst geborenen Sohn in der Wildnis aussetzen, damit er stirbt. Dabei rechnet er nicht damit, dass der Hirte, dem diese Aufgabe zukommt, Mitleid mit dem Baby haben würde. Er gibt es einem befreundeten Hirten aus Korinth und Ödipus wächst als Adoptivsohn von König Polybos und Königin Merope in Korinth auf – ohne zu ahnen, dass die leiblichen Eltern ganz andere Personen sind.
Hätte Laios anders handeln können? Wäre es dann überhaupt zu der Prophezeiung für Ödipus gekommen? Wäre Ödipus bei seinen leiblichen Eltern aufgewachsen, hätte man ihn im Wissen um die Prophezeiung aufwachsen lassen können? Vielleicht hätte er eines Tages seinen Vater erschlagen, aber hätte er auch seine Mutter geheiratet?
Kurzum: Kann man dem eigenen Schicksal, wenn man es kennt, entkommen – oder sollte man es akzeptieren und gerade trotz des Schicksals versuchen, ein gutes Leben zu haben?
Mein Ausgangspunkt: Bodo Wartkes „König Ödipus“
Wie im Blogbeitrag zu „Antigone“ beschrieben, begann meine Reise ins antike Griechenland mit der Theateradaption von Bodo Wartke. Ich hatte zuvor noch nie etwas von diesem Künstler gehört und zwar wusste ich, dass es ein Stück namens „König Ödipus“ gibt, aber den Inhalt kannte ich nicht. Als mir meine Bloggerkollegin Mallefitz die DVD zum Wartkeschen „König Ödipus“ schenkte, ging ich folglich völlig unbedarft an die Geschichte ran.
Was ich sah, war eine Geschichte, die zunächst in ihrer Inszenierung brillant umgesetzt ist. Bodo Wartke spielt alle Rollen des Stücks selbst, nutzt nur wenige Requisiten um die Rollenwechsel zu verdeutlichen und schafft es vielleicht auch gerade wegen der reduzierten Darstellung, mich bei jedem erneuten Ansehen der DVD genauso zu packen wie am ersten Abend. Und dann der Text: Bis auf – ganz bewusst – einen einzigen Satz, reimt sich alles. Und es sind so prägnante Reime, die voller Witz daher kommen und die dann doch die unfassbare Tragik der Geschichte unterstreichen, dass ich stets Tränen lache und dann wieder tief ergriffen bin.
Ein Satz sollte zudem eine Art Motto für mich werden: „Am besten man bewahrt sich in der Krise den Humor.“ – Das gilt in meiner Erfahrung sowohl für gebrochene Knochen als auch für das Überleben in Pandemien. Und für den Rest des Lebens gilt es wohl auch.
Die Nähe zu Sophokles‘ Werk wird in „König Ödipus“ an vielen Stellen deutlich: Bodo Wartke nutzt, um Zitate daraus zu verdeutlichen, ein Reclam-Heft mit Sophokles‘ Stück in der Übersetzung von Kurt Steinmann. Gerade diese Liebe zum Detail hat mich – neben Bodo Wartkes schauspielerischem Talent, seiner Musikalität und dem damit verbundenen Einsatz verschiedenster Instrumente und Stilrichtungen – sehr beeindruckt. Vor allem wird trotz aller Komik zu Beginn und aller Tragik am Ende deutlich, wie sehr sich der Künstler und das Team, das die Inszenierung ermöglicht hat, mit der Frage nach dem Schicksal auseinandergesetzt haben.
Sophokles‘ Werk
„König Ödipus“ ist, wenn ich das so ganz banal und platt formulieren darf, ein waschechter Krimi. Ein Großteil der Geschichte – die an einer ganz anderen Stelle beginnt als Bodo Wartkes Adaption – dreht sich nur drum, den Mörder des alten Königs von Theben (Laios) zu finden. Denn die Pest wütet in Theben und, so das Orakel von Delphi, erst wenn der Mörder gefunden ist, wird die Bevölkerung von der Seuche befreit sein. (Damals hatte man es noch nicht so mit Social Distancing, wie mir scheint.)
Das Reclam-Heft ist erstaunlich dünn, ich hatte erwartet, dass das Originalstück viel länger ist. Und ich hatte auch erwartet, dass es sich – da es nunmal mehr als 2000 Jahre alt ist – ich wesentlich schwieriger liest. Zugegeben: Die Teile des Chors, die quasi erklärende Informationen für die Zuschauenden bieten, haben bei mir eher weitere Fragen aufgeworfen, als zum Verständnis beizutragen. Ansonsten ist die Geschichte jedoch sehr gut zugänglich. Insbesondere, wenn man die Handlung schon kennt.
Was mich jedoch am meisten erstaunt hat, ist, dass Sophokles eine so spannende Geschichte geschrieben hat. Innerhalb kürzester Zeit entfaltet sich ein Krimi, der mich das Buch gar nicht mehr weglegen ließ – obwohl ich die Geschichte bereits kannte! Und dann ging mir durch den Kopf, wie absurd die Annahme, Sophokles könnte etwas total Langweiliges geschrieben haben, überhaupt ist. Ein Stück, das über 2000 Jahre später immer noch gelesen und vor allem aufgeführt wird, zeichnet sich sicher nicht durch eine beeindruckende Inhaltsleere oder den einschläfernden Effekt auf die Zuschauenden aus. Umso trauriger ist es eigentlich, dass diejenigen, von denen ich weiß, dass sie das Stück im Deutschunterricht durchgenommen hatten, alles andere als begeistert waren. Viele konnten sogar meine Begeisterung und die Tatsache, dass ich die Geschichte freiwillig las, nicht verstehen.
Falls Ihr zu Schulzeiten das Buch lesen musstet und es öde fandet: Guckt Euch die Bodo Wartke-Inszenierung an. Und lest das Werk von Sophokles danach erneut. Falls Ihr das Buch nicht lesen musstet, legt es Euch zu, guckt die Bodo-Version oder lest erst das Heftchen – egal, aber gebt diesem Stück eine Chance!
Als Comic: „Œdipus“ von Luc Ferry, Clotilde Bruneau und Diego Oddi (Übersetzung: Harald Sachse)
Luv Ferry hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Mythen der Antike für Comics zu adaptieren und die Lehren und Philosophien hinter den Geschichten auf diese Art und Weise zugänglich zu machen. Jeder Comicband präsentiert dabei einen Mythos, ist in sich abgeschlossen und erläutert im Anhang weitere Details zum jeweiligen Stoff.
Während in der Wartke-Adaption von Ödipus nur Sophokles‘ „König Ödipus“ adaptiert wird und er in „Antigone“ dann das gleichnamige Stück von Sophokles und dessen „König Ödipus auf Kolonos“ (bzw. „Sieben gegen Theben“ von Aischylos) verwendet, nutzt Luc Ferry im Comic „König Ödipus“ und „Ödipus auf Kolonos“. Die Geschichte von Antigone wird nahezu komplett ausgeklammert. Er bleibt in „Œdipus“ jedoch ein wenig näher am Originaltext als Bodo Wartke. Das merkt man insbesondere bei zwei Szenen: Der, als Ödipus Laios tötet und der Konfrontation mit der Sphinx.
Was mich ein wenig überrascht und auch enttäuscht hat, war der fehlende „emotionale Funke“ beim Lesen des Comics. Sowohl bei Bodo Wartkes Adaption (die ich mehrfach gesehen habe), als auch beim Lesen von Sophokles Worten, habe ich stets mitgefiebert, mitgelitten und immer wieder völlig irrational gehofft, dass die Geschichte doch ein gutes Ende nehmen möge. Nicht so beim Comic. Vielleicht liegt das am Zeichenstil, der zwar auf mich recht ansprechend wirkt, aber wesentlich weniger dramatisch herkommt, als die Geschichte es eigentlich verlangt. Da gefiel mir die Comic-Darstellung des „Antigone“-Stücks wesentlich besser.
Der Comic ist jedoch ein gelungener Einstieg in die Welt des Ödipus-Mythos, wenn man – vielleicht als eher visuell geneigter Mensch – neugierig auf die Geschichte ist und sie in vergleichsweise moderner Sprache – die nicht mit großen Textverweisen auf die Theatervorlage aufwartet – lesen möchte. Auch für Schüler*innen, die sich dem Stoff auf andere Art und Weise nähern möchten, bietet sich der Comic sicher an.
Der das Buch abschließende Teil mit zusätzlichen Erläuterungen ist hochinteressant zu lesen und war für mich eine tolle Ergänzung zu der bisherigen Lektüre rund um den Ödipus-Mythos. Allerdings muss ich sagen, dass die Sprache die dort gewählt wurde, doch recht komplex ist. Ich selbst habe damit wenig Probleme – das was mir tagtäglich auf Arbeit begegnet, sorgt für eine gewisse Übung – aber vermutlich weiß nicht jede*r was mit „freudianischem Reduktionismus“ oder einem „kosmologischen Standpunkt“ gemeint ist. Das ist schade, wenn man bedenkt, dass der Comic einen Einstieg in die Welt antiker Mythen bieten soll.
Ödipus – drei Lektüren, ein Fazit
Ich glaube, es kommt im obigen Text schon recht deutlich zum Ausdruck: Ich finde den Ödipus-Mythos verdammt spannend und mag ihn eigentlich in jeglicher Form. Alle der hier vorgestellten Bücher bzw. Adaptionen sind sehr empfehlenswert, haben aber ihre jeweilige Zielgruppe. Den einfachsten Einstieg in die Geschichte erhält man wohl bei Bodo Wartke. Eine weitere Einstiegsoption ist die Comicversion, wobei der Anhang wohl eher für diejenigen gedacht ist, die noch tiefer in die Zusammenhänge eintauchen möchten. Hier bietet es sich jedoch an, zuvor Sophokles Stück gelesen zu haben. Das eignet sich grundsätzlich für jede*n, denn es ist trotz seines Alters spannend geschrieben. Und den Chor muss man nicht unbedingt bis ins letzte Detail verstehen.