Rezension: „Schäfchen im Trockenen“ (Anke Stelling)

[Rezensionsexemplar, vielen Dank an den Verbrecher Verlag!]

Kennt Ihr dieses Gefühl, wenn Ihr ein Buch besprechen wollt, das für Preise nominiert ist – oder gar gewonnen hat – und Ihr Angst habt, dem Buch nicht gerecht werden zu können? Oder es völlig falsch verstanden zu haben?

So geht es mir gerade mit „Schäfchen im Trockenen“ von Anke Stelling, das in der Kategorie Belletristik für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist. Das von mir auf 266 Seiten 39 Lesefähnchen für besonders tolle Stellen verpasst bekommen hat. Das ich schon nach 30 Seiten allen Kolleg*innen wärmstens ans Herz gelegt und dessen Sprache ich bereits nach wenigen Zeilen auf Twitter gefeiert habe.

Und jetzt sitze ich hier und grüble über jedem Wort, ob es auch wirklich zum Buch passt, der Autorin gerecht wird und rüberbringt, wie sehr mir dieses Buch gefallen hat.

(Foto: S. Schückel)

Eine Warnung vorab

Vielleicht fange ich am besten mit einer Warnung an, denn dieses Buch ist bitter. Es hinterfragt, es piekst in Wunden, die wir vielleicht nicht sehen wollen und es nimmt sich die Freiheit heraus, die Dinge ans Licht zu holen, die wir in unserer Bequemlichkeit lieber ignorieren. Stellenweise klingt Resi, die als Schriftstellerin ihre Erlebnisse für ihre 14-jährigeTochter festhält, auch ein wenig verbittert – aber es ist die berechtigte Verbitterung von jemandem, den die Bigotterie und Uneinsichtigkeit ihres Umfeldes frustriert.

Hör zu, Bea, was das Wichtigste ist und das Schlimmste, am schwierigsten zu verstehen und, wenn du’s trotzdem irgendwie schaffst zugleich das Wertvollste: dass es keine Eindeutigkeit gibt.

(S. 5)

Dieser Satz – im Übrigen der erste Satz des Buches – kommt, wie auch der Rest des Buches, in meinen Augen zum richtigen Zeitpunkt: In einer Welt, in der Populismus eine immer größere Anziehungskraft gewinnt und die Grautöne plakativ als Schwarz oder Weiß bezeichnet werden, ist so ein Satz (so ein Buch) eine Herausforderung. Denn die meisten von uns tappen wohl – mehr oder weniger oft – in die Falle des eindeutigen Denkens. Wir fühlen uns eindeutig im Recht. Wir behaupten, die Welt sähe so und nicht anders aus. Wir brechen den Kontakt zu Menschen ab, die unser Weltbild vielleicht nicht einmal erschüttern, sondern maximal ein wenig vibrieren lassen.

Warum? Weil wir Eindeutigkeiten bevorzugen, denn diese machen unser Leben – scheinbar – einfacher.

Der Funke Wahrheit in der Fiktion

Anke Stelling beschreibt in „Schäfchen im Trockenen“ Resi, Mutter von vier Kindern, Schriftstellerin und aus dem linksliberalen Freundeskreis Verstoßene. Als der Freundeskreis eine gemeinsame Baugruppe plant, Resi nicht mitmachen möchte/will/kann und dieses Dilemma schriftlich festhält, fühlt sich der Freundeskreis in seiner Grundidentität angegriffen, sieht in Resis Kritik lediglich den Neid und wirft ihr vor, sich zum Opfer zu stilisieren. Resi dagegen sieht sich erst in der Opferrolle, als einer der Freunde, in dessen Wohnung ihre Familie lebt, den Mietvertrag kündigt.

Der Funke Wahrheit in Anke Stellings Roman ist, dass ihr eigener Freundeskreis ihren früheren Roman, „Bodentiefe Fenster“ nicht besonders wohlwollend aufgenommen hat. Das Spiel mit Wahrheit und Fiktion beherrscht Anke Stelling ohne Zweifel.

Echte Literatur hat Personal. Leute, die sich dafür hergeben, erzählt zu werden – und einem damit das eigene Erzähltwerden vom Leibe halten.

(S. 182)

Unbewusst – oder vermutlich doch bewusst – erzählt die Autorin dann irgendwie doch von sich. Oder anders formuliert: Sie erzählt von uns allen, unserem Hang dazu, die Welt zu vereinfachen, weil es bequemer ist. Unserer Vorliebe dafür, andere für ihre vermeintlichen Fehler zu verurteilen und ihnen Stempel aufzudrücken. Unser scheinbarer Zwang, Menschen in Kategorien einzusortieren.

Sortiert sie auch in Kategorien ein? In gewisser Weise schon, schließlich ist ihr Vorwurf an die Baugemeinschaft ja, dass diese Eindeutigkeiten bevorzugen. Vielleicht tun sie das nicht. Zwischen den Zeilen schimmert auch diese Botschaft von Resi an ihre Tochter durch.

Trainiere deine Seele. Sei dir bewusst, dass es keine Eindeutigkeit gibt, alles hat mindestens zwei Seiten. Liebe ist Geborgenheit und Abhängigkeit zugleich, Abhängigkeit ist Verbindung sowie Ohnmacht, Ohnmacht ist Hilflosigkeit sowie Freiheit, und dann wieder von vorn.

(S. 211)

Eine Seite, ein Lesefähnchen

So jedenfalls fühlte sich das Lesen an. Der Griff zu meinen Lesefähnchen geschah anfangs noch verwundert („Schon wieder so eine gute Stelle?“), wurde dann jedoch beinahe zur Routine. 39 Lesefähnchen auf 266 Seiten zu vergeben ist schon ein beeindruckender Schnitt. Ich drücke Anke Stelling jedenfalls die Daumen, dass sie den Preis der Leipziger Buchmesse gewinnt und weiß jetzt schon, dass dieses Buch nicht das letzte von ihr in meinem Regal sein wird.

Mehr zum Buch:*

  • Preis: 22 €
  • Gebundene Ausgabe: 266 Seiten
  • Verlag: Verbrecher Verlag
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 395732338X
  • ISBN-13: 978-3957323385

 

3 Gedanken zu “Rezension: „Schäfchen im Trockenen“ (Anke Stelling)

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