Rezension: „Das kalte Blut“ (Chris Kraus)

Was für ein Buch: 1200 Seiten. Drei Monate Lesezeit. Und seit mehr als vier Wochen überlege ich nun, wie ich meine Gedanken zu diesem Werk in Worte fassen kann. Ich habe viele Seiten an Notizen neben mir liegen, Skizzen der Charakterbeziehungen, herausgeschriebene Zitate – kurz: Gedankenstützen, die mir allerdings nur umso mehr vor Augen halten, dass diese Geschichte für mich mehr als nur ein Buch ist.

Es ist nicht leicht, einen Roman dieses Umfanges spoilerfrei zu besprechen. In der Berichterstattung rund um Chris Kraus und sein Mammutwerk sind häufig Spoiler zu finden, die manch eine Wendung im Buch vorwegnehmen und den vom Autor angestrebten Überraschungseffekt ausbleiben lassen. Meine Rezension klammert diese Punkte in der Geschichte bewusst aus, da ich finde, dass die Leser – und auch der Autor – es verdienen, von manch einer Enthüllung eiskalt überrascht zu werden.

Zunächst: Vielen Dank an den Diogenes Verlag, der mir das Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Dünnes Papier und doch so ein dickes Buch – mit viel Lesevergnügen! (Foto: S. Schückel)

Inhalt:

„Das kalte Blut“ ist ein Epos, das letztlich die Beziehung dreier Geschwister über mehrere Jahrzehnte begleitet. Hub und Koja, Brüder aus Riga, bekommen durch bloßen Zufall eine Adoptivschwester – Ev. Koja erzählt seine Lebensgeschichte, rückblickend einem Hippie, mit dem er sich im Krankenhaus ein Zimmer teilt. Dabei offenbart er all die Höhen und Tiefen seines Lebens – und auch die menschlichen Abgründe, die hinter seiner sympathischen Fassade verborgen sind. Denn Hub und Koja sind tiefer in die wechselhafte Geschichte des 20. Jahrhunderts verstrickt, als man zunächst denkt. Als Spione der Nazis und später beim BND aber auch bei CIA und Mossad haben sie die Geschichte Deutschlands mehr beeinflusst, als es zunächst den Anschein hat. Je mehr Koja erzählt, desto klarer wird dem Hippie – wie auch dem Leser – dass aus ganz banalen Entscheidungen zum Selbstschutz oder dem Schutz geliebter Menschen die fürchterlichsten Ergebnisse erwachsen können.

Und doch ist Kojas Geschichte eben auch das: eine Liebesgeschichte. Er und Hub lieben die Schwester abgöttisch und so ist Kojas Erzählung auch ein gedanklicher Rückblick auf die Veränderungen, die diese Liebe – und auch die Beziehung zwischen den Brüdern – durchlaufen ist. Auch Evs rätselhafte Vergangenheit spielt hier maßgeblich hinein, ebenso beeinflussen andere Personen – Geliebte wie auch einfache Bekannte – die Dynamik zwischen den Geschwistern.

Mein Eindruck:

Eben diese Dynamik zwischen den Geschwistern ist für mich einer der zentralen Punkte des Buches, welche die Geschichte auch über 1200 Seiten und – in meinem Fall – drei Monate Lesezeit hinweg spannend und interessant gemacht haben. Ev, Hub und Koja – in dieser Beziehung ist stets alles im Wandel. Dabei mäandern ihre Gefühle zwischen Liebe und Hass, Verachtung und – seltener – auch Gleichgültigkeit. Chris Kraus lässt diese Vielschichtigkeit immer durchschimmern, so dass man als Leser die negativen Emotionen stets im Hinterkopf hat, wenn die Beziehungen gerade harmonisch sind. Doch auch wenn in der Geschichte alles den Anschein hat, als wäre zwischen den drei Figuren nichts mehr zu retten, gelingt es Kraus mit seiner meisterhaften Erzählkunst, stets die ursprüngliche Liebe der Geschwister aufrechtzuerhalten.

Es kann sich niemand aussuchen, wann er geboren wird und wo und in welchen Verhältnissen. Man wächst in die Zeit hinein, die gerade da ist, und es kann weiß Gott nicht jeder in eine Zeit hineinwachsen, in der Hippies am Leben gelassen werden.

(Das kalte Blut, S.567)

Chris Kraus stammt aus einer Täterfamilie, wovon er lange nichts wusste. Er schrieb diese Geschichte, nachdem er zehn Jahre die eigene Familiengeschichte aufgearbeitet hat und diese ganz persönliche Geschichte bildet die Basis seines Romans. In seiner Vielschichtigkeit – literarisch wie auch historisch – wäre es nicht zuletzt auch die perfekte Lektüre im Schulunterricht, damit sich auch kommende Generationen mit der Vergangenheit in all ihrer Grausamkeit und Absurdität auseinandersetzen. Dieses Buch verlangt dem Leser viel ab und doch gibt die Lektüre auch viel zurück. Gerade die unterschwellige Weisheit, die in den ruhigeren Momenten zum Tragen kommt, ist beeindruckend.

Das was die Geschwister im Verlauf der Jahre und Jahrzehnte – insbesondere aber zur Nazizeit – durchmachen, steht symbolhaft für vieles, was damals passiert ist: Hub als derjenige, der nicht nur mitläuft, sondern voranschreiten will und die Ideologie nutzt, um sich zu profilieren. Koja als derjenige, der sieht, was geschieht und doch die Augen verschließt, mitläuft und versucht so gut es geht, die eigene Haut und die derjenigen die er liebt zu retten. Und Ev als das eigentliche Opfer, die an der Realität fast zugrunde geht. Diese Erlebnisse, kombiniert mit der komplexen Gefühlsvielfalt zwischen den Geschwistern, wird von Kraus intelligent, spannend und virtuos in die historischen Gegebenheiten eingeflochten, so dass man sich beim Lesen – mal fasziniert, mal erschaudernd – fragt, welche Figur real und welche fiktiv ist.

Für ein Werk dieses Umfangs, so möchte man denken, braucht man ein gutes Namensgedächtnis. Und in der Tat habe ich direkt beim Lesen versucht, ein Beziehungsschema der Figuren aufzuzeichnen, da ich mein eigenes schlechtes Namensgedächtnis kenne. Zudem trägt man über 1000 Seiten nicht einfach mal eben in der Handtasche mit sich herum und so legte ich zwangsläufig Lesepausen ein. Zwei Dinge werden aber schnell klar: Zum einen ist es beinahe unmöglich alle Figuren mit all ihren Rollen, ihren Decknamen und ihren Scheinheiligkeiten auf nur ein Blatt Papier zu bekommen, ohne dass darauf ein heilloses Chaos entsteht. Zum anderen ist dieser Versuch absolut unnötig. Chris Kraus hat zwar eine komplexe Geschichte mit vielen doppelten Böden, überraschenden Wendungen und einer Vielzahl an Charakteren erschaffen – er nimmt den Leser aber stets mit, erinnert geschickt an Vorangegangenes und zeichnet die Figuren so plastisch, dass keine von ihnen in Vergessenheit geraten kann.

Die Signatur habe ich mir auf der Leipziger Buchmesse geholt. (Foto: S. Schückel)

Doch nicht nur die Erzählebene der vergangenen Ereignisse, die Koja dem Hippie im Krankenhaus schildert, ist faszinierend beschrieben. Es sind auch die Interaktionen mit dem Hippie, die mich begeistert haben. Perspektivwechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart fühlen sich nicht, wie es in anderen Büchern manchmal der Fall ist, wie ein Bruch in der Geschichte an. Vielmehr gehen die Sequenzen im Krankenhaus und Rückblenden in Kojas Vergangenheit organisch ineinander über. Mich faszinierte vor allem die Haltung des Hippies, der letztlich gekonnt die Eindrücke des Lesers widerspiegelt: Kojas Taten – und auch die seiner Geschwister – die durch seine Erzählung nach und nach ans Licht kommen sind ebenso aberwitzig wie verstörend. Wirkt Koja zunächst wie ein sympathischer älterer Mann, wird nach und nach klar, was ihm alles auf dem Gewissen lasten muss. So, wie man als Leser über bestimmte Teile seiner Geschichte erschrickt und diese verstörend findet, so ähnlich reagiert dann der Hippie – und bringt durch seine Weltanschauung noch eine zusätzliche Perspektive in die Geschichte. Der Hippie ist quasi als moralische Instanz damit für mich die interessanteste Figur.

Spektakulär erfolglos waren auch die Amerikaner, die für Geheimdiensarbeit nun wirklich untalentierteste Nation auf Gottes weiter Erde. […] Und was phantastische, geradezu durchgeknallte Operationen betrifft, so führen die Vereinigten Staaten mit großem Abstand die internationale Exzellenztabelle an.

(Das kalte Blut, S.365)

Beeindruckend ist der Humor, mit dem Chris Kraus immer wieder aufwartet. Man könnte meinen, dass das Geflecht aus Betrug, Verrat und Gewalt zur Nazizeit und auch danach keinerlei Platz für Humor oder irgendeine andere Art von Leichtigkeit lässt. Anstatt aber die Geschichte durch die ihr innewohnende Negativität in sich selbst zu ersticken, arbeitet Kraus die ganze Dramatik durch Humor besonders heraus. Ob es nun eine bissige Bemerkung oder eine scharfe und ironische Beobachtung seiner Figuren ist: Anstatt die Unmenschlichkeit der Geschehnisse überhandnehmen zu lassen, wirken diese Momente letztlich wie die Mahnung, die eigene Menschlichkeit nicht zu verlieren.

Fazit:

Zu diesem Buch könnte ich noch viel mehr schreiben und man könnte sich stundenlang über die verschiedenen Aspekte unterhalten. Chris Kraus hat einen in jeglicher Hinsicht großen Roman geschrieben, der nicht nur spannend, mitreißend und dramatisch geschrieben ist, sondern auch nie die leichteren Momente des Lebens unterschlägt. Es ist eine Liebesgeschichte, ein Historiendrama, ein Spionageroman und letztlich so viel mehr als eine Kombination dieser Kategorien. Die vielen Seiten sollten keinen Leser abschrecken. Im Gegenteil: Es wartet ein außergewöhnliches Lesevergnügen, das nicht nur viele spannende Lesestunden bereithält, sondern auch lange nachwirkt. Und der die Hoffnung weckt, dass Chris Kraus sein Werk als Regisseur auch auf die große Leinwand bringt.
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5 von 5 Sternen.

Mehr zum Buch:*

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Zu diesem Buch ist bereits eine Vielzahl an Artikeln und Interviews erschienen. Ich kann nicht versprechen, dass diese komplett ohne Spoiler auskommen, möchte sie Euch aber nicht vorenthalten.
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Interview mit Chris Kraus auf dem Blog des Diogenes Verlags // Auszüge und Hintergrundinformationen zum Roman auf dem Blog des Diogenes Verlags // NDR Kultur über Das kalte Blut // Focus Online zum Buch
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Auch auf verschiedenen Blogs gibt es schon Rezensionen – hier eine kleine Auswahl:
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  • Preis: 32 €
  • Gebundene Ausgabe: 1200 Seiten
  • Verlag: Diogenes; Auflage: 1 (22. März 2017)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3257069731
  • ISBN-13: 978-3257069730

6 Gedanken zu “Rezension: „Das kalte Blut“ (Chris Kraus)

  1. Dieses Buch reizt mich auch sehr, aber 1200 Seiten ist schon eine Menge. Und wenn Astrid ein Buch schon gelesen und besprochen hat, sinkt meine Motivation doch häufig…
    Das Treffen mit dem Autor auf der Buchmesse war für mich ein sehr interessantes Erlebnis. Er hat auf Augenhöhe mit uns diskutiert (nicht wie Martin S.) und richtig Begeistrung für das Buch geschürt. Wenn ich daran zurückdenke, muss ich es doch noch unbedingt lesen…
    Viele Grüße
    Silvia

  2. Nachdem ich auch russische Klassiker verschlinge, schrecken mich 1200 Seiten nicht ab. Im Gegenteil – gerade solche Bücher, vorausgesetzt gute und interessante Thematik sowie fesselnder Plot, bleiben einem im Gedächnis. Immerhin beschäftigt man sich mit ihnen länger als mit „dünnen“ Büchlein.
    Daher wandert dieses Buch sofort auf meine WL..ach sind wir uns ehrlich..in den Einkaufswagen und ich bedanke mich für diesen tollen Buchtipp.

    Liebe Grüße aus Wien
    #litnetzwerk (haaaa…diesmal nicht vergessen)

    • Moin nach Wien 🙂

      Ich mag 1200 Seiten Bücher auch, allerdings haben sie für mich den Nachteil, dass ich sie nur sehr langsam lese. Hauptsächlich lese ich nämlich in Bus und Bahn und wenn da eine Horde Schulkinder drin sitzt, ist meine Aufmerksamkeit leider nur begrenzt. Deshalb sind die großen dicken Schmöker leider etwas weniger geworden… Aber die mukkelige Herbstzeit ist ja jetzt da und damit auch endlich wieder viel Lesezeit 🙂

      Danke, dass Du vorbei geschaut hast!

      Liebe Grüße
      Sarah

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  4. Eine tolle Kritik zu einem nicht minder tollen Buch. Wenn ich das alles hier so lese, bekomme ich auch gleich wieder Lust, mich nochmal in Kojas Welt zu stürzen …

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