Rezension: „funny girl“ (Anthony McCarten)

Für mich bedeutet Lesen nicht nur eine gelungene Abwechslung und Ablenkung vom Alltag. Für mich bedeutet Lesen auch, dass ich mich auf literarischem Weg Themen nähere, die von gesellschaftlicher oder politischer Relevanz sind. „funny girl“ von Anthony McCarten verbindet beides.
 
image12

(Foto: Privat)

Inhalt:

 
Azime möchte nichts weiter als das, was wohl jeder junge Erwachsene möchte: Den eigenen Weg im Leben finden und gehen. Genau dieser Wunsch, der darin mündet, dass Azime Komikerin werden möchte, geht gegen alle Vorstellungen ihrer Eltern und der Gemeinschaft in der sie lebt. Eine Muslima, so deren Ansicht, hat nicht witzig zu sein – was reichlich ungünstig für Azime ist, denn sie kann nicht nicht witzig sein.
 

Mein Eindruck:

In diesem Buch liegen Komik und Tragik sehr nah beieinander. Auf der einen Seite ist da Azime, die einen wunderbaren Sinn für Humor hat, trocken und schlagfertig auf beinahe jede Bemerkung zu antworten weiß. Und auf der anderen Seite ist da ebenfalls Azime, der gesagt wird, sie hat als muslimische Frau nicht lustig zu sein, sie habe nichts zu sagen. Die Diskrepanz zwischen der Sehnsucht nach Redefreiheit und dem Wunsch nach Akzeptanz durch die Gemeinschaft, die sie mundtot zu machen droht, ist das Spannungsfeld welches McCarten aufbaut und in dem er die Charaktere mal entlang bekannter Klischees führt, sie aber dann auch wieder komplett aus diesen ausbrechen lässt.
Sowieso, die Klischees: Jeder Mensch hat Vorurteile im Kopf, denn diese braucht unser Gehirn, um mit der Komplexität der Welt zurechtkommen. Wichtig ist jedoch, dass man sich gerade in Bezug auf das soziale Gefüge dieser Vorurteile bewusst wird, und das eigene Handeln und die Wahrnehmung anderer möglichst unabhängig von ihnen macht. McCarten spielt virtuos mit den Stereotypen, welche in den Köpfen seine Leser gerade in Bezug auf den Islam und eingewanderte Familien vorherrschen mögen. Mal entwickelt er die Handlung entlang der erwartbaren Möglichkeiten um dann, keine zwei Seiten später, komplett aus den Klischees auszubrechen und den Leser so zu überraschen. Es ist eine Herausforderung, die eigenen Vorurteile zu hinterfragen. Gerade in der aktuellen Zeit kann man das Gefühl haben, dass dies nicht jedem gelingt. McCarten sorgt dafür, dass dieses Hinterfragen amüsant wird – was noch ein Grund mehr ist, dieses Buch weiterzuempfehlen. Erst wenn wir hinter die Kulissen unserer Vorurteile blicken, können wir uns von ihnen frei machen.
„funny girl“ ist ein Roman voller Grautöne. Leiser Humor ist auch in den tragischsten Szenen zu finden und die lautesten Lacher sind stets bittersüß. Genau diese Mischung ist es wohl, die ihn so reizvoll macht. Noch dazu gelingt es McCarten, den Leser immer wieder für kurze und auch für längere Momente aufs Glatteis zu führen, Szenen zunächst anders erscheinen zu lassen als sie es in Wirklichkeit sind und damit wird die Vielschichtigkeit der Geschichte vollends deutlich: Man kann nie wissen, welche Wendung der Autor sich als nächstes ausgedacht hat. Und man kann genauso wenig wissen, wie ein Mensch tickt – ob er nun ein Tuch über seinem Kopf trägt, oder nicht. Schlussendlich muss man das Buch lesen, um die ganze Geschichte zu verstehen – und den Menschen im Einzelnen kennenlernen, bevor man darüber urteilt, wie er sich kleidet.
Der Wert der Freiheit ist ebenfalls ein Punkt, der dem Leser von McCarten auf präzise und eindringliche Art und Weise vor Augen geführt wird. Ganz besonders der Preis der Redefreiheit. In Zeiten von Social Media glauben wir, alles sagen zu können, was wir wollen. McCarten zeigt, welche Auusmaße diese Freiheit annehmen kann und wie die vermeintliche Redefreiheit auch dafür sorgt, dass Mitmenschen stumm werden – aus Angst vor Ausgrenzung, Hatespeech und Verfolgung. Auch in diesem Punkt beeindruckt die Vielschichtigkeit der Geschichte, die immer beide Seiten der Medaille beleuchtet und den Leser in die Pflicht nimmt, das eigene Gehirn zum Nachdenken zu benutzen.

Fazit:

 
McCarten hat einen Roman geschrieben, der so aktuell ist, dass es beim Lesen beinahe schmerzt. Er hat einen Roman geschrieben, der einen auch nach der letzen Seite nicht loslässt und der die Mitmenschen in einem anderen Licht erscheinen lässt. Sowohl diejenigen, die verschleiert sind, als auch diejenigen, die ohne zu zögern über sie urteilen. Gerade als Dresdnerin, die ich mich für Internationale einsetze, ist es ein Buch, das mich noch lange begleiten wird. Und das ich jedem als Herz legen möchte. Lest dieses Buch, schreibt darüber, diskutiert mit Eurer Familie, Euren Freunden und Kollegen darüber. Dieses Buch hat mehr Potential als nur eine gute Geschichte zu sein. Es kann uns besser machen. Nichts ist in Zeiten wie diesen erstrebenswerter.
5 von 5 Sternen.
Eine Leseprobe könnt Ihr hier finden.

Mehr zum Buch:*

  • Preis: 13€
  • Gebundene Ausgabe: 384 Seiten
  • Verlag: Diogenes; Auflage: 2 (26. Februar 2014)
  • Übersetzer: Manfred Allié
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3257068921
  • ISBN-13: 978-3257068924

Ein Gedanke zu “Rezension: „funny girl“ (Anthony McCarten)

  1. Pingback: Rezension: „Licht“ (Anthony McCarten) | Studierenichtdeinleben

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert