Liebe S.,
mittlerweile bist Du in der 3. Klasse und zum ersten Mal musst Du ein Buch lesen, weil die Schule Dir das so vorgibt.
Willkommen in dieser merkwürdigen Welt, in der die Pflicht, Dich mit einer Geschichte zu beschäftigen, in Dir den Wunsch wecken soll, häufiger in Bücher einzutauchen.
Ich verrate Dir jetzt mal was: Ich habe in meiner Schulzeit nur selten wirklich großen Spaß an den Pflichtbüchern gehabt. Meist waren sie ganz in Ordnung. Manchmal aber auch stinklangweilig. Das gehört leider dazu.
Willkommen also auch in einer Welt, in der Dir nicht mehr alle Bücher so gefallen wie die, die wir Dir als Familie bisher ausgesucht haben.
Da ich „Die kleine Hexe“ von Ottfried Preußler selber nie gelesen habe, war ich neugierig und habe mir das Buch auch schnell besorgt. Es gilt ja bis heute als Klassiker, also als ein so wichtiges Buch, dass man es auch viele Jahrzehnte nach seinem Erscheinen liest und vorliest. Wusstest Du, dass das Buch so alt wie Omi und Opi ist? Spannend, oder?
Leider fängt es nicht wirklich spannend an. Also – für mich als Erwachsene schon. Ich mag lange Beschreibungen, mag es, wenn die Figuren langsamer vorgestellt werden. Aber ich kenne Dich und weiß, dass am Anfang am besten etwas Witziges passieren sollte, damit Du Spaß am Weiterlesen hast.
Und soll ich Dir was verraten? Ich fand die Sprache ganz merkwürdig! Wusstest Du, dass „Muhme“ ein altes Wort für „Tante“ ist? Ich bin Deine Muhme! Klingt ein wenig so, als wäre ich schon so alt wie eine Mumie und würde gleich auseinanderfallen. (Übrigens: Muhme und Mumie haben als Worte nichts miteinander zu tun. Die klingen nur ähnlich und ich musste spontan daran denken.)
Jedenfalls ist das Buch voll von diesen Formulierungen. „Muhme“ und „Dreingabe“ oder „Feldrain“. Das sind alles Worte, die man beim Vorlesen wunderbar erklären könnte. Aber da Du dieses Buch ja still für Dich selbst lesen sollst, fehlen Dir diese Erklärungen. Ich finde das unfair. Da hätte man auch ein Pflicht-Buch aussuchen können, in dem die Sprache mehr so ist, wie wir heute sprechen.
Und nochmal zur „Muhme“: Bitte wie fies ist diese Person? Ich verstehe, dass viele Bücher einen Bösewicht brauchen, damit die Heldin am Ende gewinnen kann. Aber warum muss ausgerechnet die Tante böse sein? Im ganzen Buch kommen so viele Hexen vor, da hätte auch eine fremde Hexe die Böse sein können. Und wieso ist die „Muhme“ eigentlich böse? Nur, weil ihre Nichte so jung ist und bei der Walpurgisnacht mitmachen wollte? Das ist doch kein guter Grund! Du willst ja auch oft mitmachen und bist jünger als ich. Da gucken wir, wie wir das möglich machen – anstatt Dich auszuschließen.
Ich finde übrigens, dass die kleine Hexe viel zu viel kann. Nur am Anfang im ersten Kapitel gelingen ihr die Hexensprüche nicht. Danach? Alles funktioniert auf Anhieb. Ich weiß, es ist nur eine Geschichte, aber ich finde es unlogisch, dass einer Hexe, die erst nichts auf die Reihe kriegt, plötzlich alles gelingt. Viel realistischer ist es doch, wenn man Fehler macht. Oder mehrfach anfangen muss. Ich glaube, ich würde das Buch mehr mögen, wenn die kleine Hexe ab und zu etwas falsch machen würde. Vielleicht hext sie dem Ochsen aus Versehen einen lustigen Hut auf den Kopf, bevor sie ihn rettet? Vielleicht haben die Kinder, die die Eier aus den Nestern stehlen, nach ihrer Hexerei grüne Punkte am ganzen Körper, die erst nach einiger Zeit verblassen? Vielleicht wiehert der Förster ab und zu, nachdem die Hexe ihn verzaubert hat, damit die alten Frauen in Ruhe ihr Holz sammeln können?
Das wäre doch viel witziger!
Du siehst also, liebe S., ich bin mit Deiner Pflichtlektüre auch nicht ganz so zufrieden. Ich drücke Dir die Daumen, dass das nächste Pflicht-Buch besser wird. Ich bin schon gespannt darauf.
Bis dahin: Was für ein Buch wünschst Du Dir denn? Dann kann ich es Dir schenken, damit das Lesen wieder mehr Spaß macht.
Alles Liebe,
Deine Sarah