Rezensionsexemplar
Ich weiß noch, wie ich im Urlaub im August im Herzensort stand und dort im Buchladen Karen Köhlers „Miroloi“ zum ersten Mal in der Hand hielt.
Mit diesem Satz beginnt der Entwurf einer Rezension, die seit gleich zwei Jahren überfällig ist. Mir fällt es nicht leicht, das zuzugeben, denn eigentlich habe ich sehr hohe Ansprüche an mich selbst und möchte Rezensionsexemplare zeitnah zum Erhalt besprechen.
Ohne ins Detail gehen zu wollen: Mir kam das Leben dazwischen. Das Leben, das in all seiner Wucht auf mich einwirkte und mir gleich zweimal sogar meine Sprache raubte und Rezensionen nahezu unmöglich machte.
Als ich die offenen Rezensionen durchging, blieb mein Blick immer wieder schamerfüllt an dieser Datei hängen, die aus einer Zeit stammt, als mir erstmals die Worte ausgingen. Ich habe lange überlegt, sie zu löschen, dem Verlag eine große Entschuldigung zu schreiben und die Sache ad acta zu legen. Aber ich glaube, es ist sehr wichtig, dass Blogger*innen nicht verbergen, wie hart das Leben manchmal sein kann und wie schnell die scheinbar schöne Welt aus wunderbaren Büchern und Lesestunden Risse bekommt. Deshalb möchte ich heute die Rezension zu „Miroloi“ mit Euch teilen.
Lasst mich vorab ein wenig ausholen:
Sprache und ich
Ich verdiene mein Geld mit Worten, aber die Bedeutung von Sprache für mich ganz persönlich wurde mir erst spät bewusst.
Als ich, wie oben beschrieben, „Miroloi“ erstmals in den Händen hielt war es August, ich war gesund und im Urlaub. Ich las in das Buch hinein und spürte diesen ganz charakteristischen Sog, den gute Bücher für mich oftmals innerhalb weniger Seiten entwickeln. Ich ahnte: Dieses Buch ist besonders, dieses Buch sollte ich lesen.
Ende Oktober 2019 brach ich mir das Bein und ich habe hier bereits einmal beschrieben, wie ein gebrochener Knochen nicht automatisch zu entspannten Lesestunden führen muss. Bei mir war das jedenfalls der Fall. Erst Monate später wurde mir klar, dass mir der Unfall nicht nur gehörige Konzentrationsschwierigkeiten eingebrockt hatte und das Lesen zeitweise erschwerte, sondern auch zu Sprachlosigkeit in meinem eigenen Kopf geführt hatte.
Diese Sprachlosigkeit dauerte wesentlich länger an als der Bruch, wurde dann endlich besser aber sollte sich – auf andere Art und Weise – im September 2020 erneut in mein Leben drängen.
Während des Beinbruchs habe ich mich, wie im verlinkten Beitrag beschrieben, nach und nach mit Hilfe der Literatur an das Lesen und letztlich unbewusst auch an Sprache wieder herangekämpft. Seit einigen Monaten gelingt es mir nun endlich wieder, die Sprachlosigkeit erneut zurückzudrängen. Doch es ist ein zäher Gegner. Routinen helfen, sowohl in Bezug auf das Lesen als auch auf das Schreiben, aber es gibt immer noch genügend Tage, an denen ich ratlos in den Winkeln meines Gehirns nach passenden Worten für mich suche.
Sprache Sprache Sprache
Während dieser langen Monate waren Bücher nicht nur allgemein ein Halt in meinem Leben, ich musste auch immer wieder an ganz bestimmte Werke denken. Darunter Karen Köhlers „Miroloi“.
Was war es, das mich sofort an ihrer Sprache im Buch begeisterte? Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass es eine Kombination verschiedener Aspekte ist. Da ist zunächst die offensichtliche Einfachheit in den Worten der Protagonistin. Klar, sie lebt als Außenseiterin auf dieser Insel, auf der Frauen nur in ganz begrenztem Maß Bildung zugestanden wird und kann deshalb weder lesen noch schreiben. Zudem sind ihre Sozialkontakte sehr eingeschränkt, nur wenige Menschen möchten überhaupt etwas mit ihr zu tun haben. Zwar lernt sie vom Betvater und ihrer „Jahjah“, einer alten Frau im Dorf, aber das zeigt ihr letztlich auch nur, wo ihre eigenen Grenzen liegen. Trotzdem schafft Karen Köhler es, mit den einfachen Worte ihrer Hauptfigur eine komplexe und vielschichtige Welt zu zeichnen, so wie man als Maler*in nicht mehr als die Grundfarben für einen Regenbogen benötigt.
Zu dieser Einfachheit kommen dann die Wortschöpfungen, die diese Einfachheit aufbrechen und zeigen, wie Fantasie die Hauptfigur hat. Die erfundenen Worte – beispielsweise „nachmittagsschlafmatt“ – zeigen, wie sehr sie sich um Wissen und Sprache bemüht aber auch, wie sehr sie an ihre Grenzen stößt, weil ihr niemand passendere Worte beibringt. Oder einfach, weil es keine passenden Worte für diesen einen Moment gibt.
Diese Stellen sind mir besonders im Gedächtnis geblieben, denn wenn meine Muttersprache unzulänglich erschien, erlaubte ich mir dank dieses Buches, zumindest in der Stille meines Kopfes eigene Wortkreationen auszuprobieren. Und das half.
Karen Köhler bringt abseits der Beschreibungen der Gesellschaftsstruktur mit diesen Mitteln zum Ausdruck, wie sehr Sprache und Macht miteinander verknüpft sind. Macht über sich selbst, aber auch Macht in der Gesellschaft. Diejenigen, die mit Sprache umgehen können, einen großen(größeren) Wortschatz haben, haben die Macht, Dinge neu zu deuten bzw. neue Regeln ins Leben zurufen und die bisherige Grundlage der Gesetze – die Worte in einer Art Bibel – neu zu schreiben.Sich in der Sprache zurechtzufinden ist Ermächtigung und Lesen und Schreiben zu lernen ebenso.
Und: Je weiter die Geschichte voranschritt, je weiter sich die junge Frau aus dem Regelwerk ihres Umfeldes herauszieht, desto tiefer fühlte ich mich beim Lesen in die Geschichte hineingezogen. In diesem Fall kann man tatsächlich in gleich mehrerlei Hinsicht von der Sogwirkung der Sprache sprechen.
Vielschichtigkeit durch Einfachheit
Auch wenn „Miroloi“ in vergleichsweise einfacher Sprache geschrieben ist, verbirgt sich dahinter eine sehr tiefgründige Geschichte. Ob die Frage nach Familie und Herkunft, Rechten von Frauen, Auswirkung von Alphabetisierung, oder generelle Gesellschaftskritik: Karen Köhler zeigt eine Parallelgesellschaft, die in ihrer gesamten Dynamik (von blinden Mitläufer*innen bis hin zu Personen, die trotz persönlicher Risiken für gegenteilige Werte einstehen) real wirkt.
Ich kann auch fast zwei Jahre nach der Lektüre dieses Buches eine absolute Leseempfehlung geben.
Und ich möchte, sollte sie das jemals lesen, danke sagen. Danke, liebe 7of9, dass Du mir gezeigt hast, was Sprache kann und mit dieser lange nachhallenden Geschichte beigebracht hast, was Sprache für mich ganz persönlich bedeutet. Und dass sich der Kampf um sie lohnt.
Da ich „late to the party“ bin: Habt Ihr „Miroloi“ bereits gelesen und wie gefiel es Euch?