Rezension: „Die Liebe im Ernstfall“ (Daniela Krien)

Kann man ein Buch mögen, dessen Figuren beim Lesen ausschließlich unsympathisch sind?

Ich bin ja von Natur aus eher jemand, der analytisch denkt und um zu erklären, was dieses Buch bei mir beim Lesen ausgelöst hat, muss ich ein wenig ausholen.

Es gibt in der Kommunikationswissenschaft – „meinem“ beruflichen Spielfeld – die Theorie der kognitiven Dissonanz. Diese Theorie, die wir vermutlich einfach aus der Sozialpsychologie gemopst haben, basiert (grob formuliert) auf der Annahme, dass Gedanken, die unseren Erwartungen entsprechen, als angenehm empfunden werden und Gedanken, die unseren Erwartungen nicht entsprechen als unangenehm – also „dissonant“ – empfunden werden. In der Kommunikationswissenschaft heißt das, dass wir, um die unangenehmen kognitiven Dissonanzen zu vermeiden, eher Medien/Artikel bevorzugen, die unser Weltbild bestätigen. In einem permanenten Zustand der kognitiven Dissonanz habe ich mich jedoch – und das aus purem Zufall – beim Lesen von „Die Liebe im Ernstfall“ von Daniela Krien befunden. Und letztlich war das vielleicht sogar ganz gut.

In diesem Sinne also vielen Dank an den Diogenes Verlag für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars inklusive allerlei Dissonanzen.

(Foto: S. Schückel)

Worum geht es?

Kurz gefasst geht es um Paula, Judith, Brida, Malika und Jorinde – fünf Frauen, deren Leben in irgendeiner Form überlappt und deren Lebensgeschichten keineswegs als glücklich zu bezeichnen sind. Aber sie sind alltäglich. Es könnte ebenso gut die Geschichte einer Nachbarin sein. Oder der Kollegin. Oder die eigene.

Mein Eindruck:

„Die Liebe im Ernstfall“ ist keine einfache Geschichte, keine der beschriebenen Frauen ist mir sympathisch – und dennoch hat mir das Buch gefallen.

Daniela Krien beschreibt die Leben ihrer Protagonistinnen in einfachen und eingängigen Worten, so dass ich keinerlei Probleme damit hatte, in die Erzählung hineinzukommen. Man begleitet als Leser*in immer eine der Frauen über eine kurze Zeit hinweg, lernt diese und ihr Leben – und in Rückblenden auch ihre Vergangenheit – kennen und trifft dabei wie durch Zufall auf die nächste Frau, die im darauffolgenden Abschnitt die Hauptrolle spielt. Das geschickte Verweben der Handlungsstränge von [Namen der Figuren einsetzen] erinnert mich ein wenig an gute Krimiserien oder Filme, in denen eine Nebenfigur, die scheinbar zufällig in einer unwichtigen Szene durchs Bild läuft, später eine zentrale Rolle einnimmt. Scheinbar spielerisch wechselt Daniela Krien zwischen den Perspektiven der einzelnen Frauen und es gelingt ihr mühelos, die Leser*innen dabei mitzunehmen.

Dieser Perspektivwechsel hielt mich zunächst bei der Stange, denn – wie gesagt – die Figuren selbst waren mir keinesfalls sympathisch. Es ist für mich nicht einfach zu sagen, woran diese Antipathie liegt, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto häufiger kam mir das Konzept der kognitiven Dissonanz in den Sinn.

Jede der Frauen hat viele Facetten, jede geht ihren Lebensweg so, wie sie ihn für richtig hält. Und vielleicht liegt genau darin der Grund, weshalb sie mir nicht sympathisch sind, denn keiner dieser Lebenswege wäre der von mir gewählte. Dadurch war jeder Lesemoment von kognitiven Dissonanzen geprägt.

Und vielleicht ist genau das das Ziel dieses Buches, nämlich zu zeigen, dass Lebenswege die nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen, auch okay sind. Umgekehrt würde ich nämlich vermuten, dass – wären Paula, Judith, Brida, Malika und Jorinde real – ich keiner von ihnen sympathisch wäre und keine meine Entscheidungen im Leben gutheißen würde. Aber ich würde wollen, dass sie akzeptiert werden. Und genau das hat dieses Buch bei mir bewirkt. Es war quasi eine Konfrontationstherapie, die mich im Aushalten kognitiver Dissonanzen trainiert hat.

Fazit:

Wie kann mir also ein Buch gefallen, dessen Protagonistinnen mir durchweg unsympathisch sind und das mich im Zustand der permanenten kognitiven Dissonanz zurückgelassen hat?

Daniela Krien hält uns in „Die Liebe im Ernstfall“ einen Spiegel vor: Wir alle sind fehlbar, wir alle versuchen so gut es geht unseres Glückes Schmied zu sein und wir alle erleben Situationen, in denen wir es mehr oder minder vermasseln. Dafür sollten wir uns – und andere – jedoch nicht sofort verurteilen. Und in Zeiten, in denen wir uns in Filterblasen bewegen, und uns permanent bestätigen, wie richtig und toll wir doch alles machen und dass unser Lebensweg der einzig Richtige ist – in solchen Zeiten sollten wir uns vielleicht darin üben, auch andere Lebenswege zu akzeptieren. Und die damit einhergehenden kognitiven Dissonanzen sollten wir lernen auszuhalten.

[Eine Sterne-Bewertung gibt es an dieser Stelle nicht, da ich die Bewertung aktuell ohnehin überdenke. Die Frage, ob das Buch etwas für Euch ist, solltet Ihr so formulieren: Könnt Ihr kognitive Dissonanzen aushalten? Wollt Ihr es erlernen?]

Mehr zum Buch:*

 

  • Preis: 22€
  • Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
  • Verlag: Diogenes; Auflage: 1 (27. Februar 2019)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3257070535
  • ISBN-13: 978-3257070538

 

6 Gedanken zu “Rezension: „Die Liebe im Ernstfall“ (Daniela Krien)

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  2. Liebe Sarah,

    danke für diese Rezi, habe mir ja das Buch von Daniela Kriehn auf der LBM19 signiert geholt.
    Jetzt bin ich umso mehr gespannter und finde auch, dass jeder fehlbar ist und wenn es eine Autorin schafft mit unsympathischen Charakteren ein gutes Buch zu schreiben, ist das schon toll.

    Liebe Grüße von
    Simone.

    PS: Ich hatte mal kognitive Dissonanzen im Kolleginnen-Umfeld einer Arbeit. Da musste ich aber 1,5 Jahre durch und habe so viel ausgehalten, bin also darin schon geübt. Schön, war es aber nicht und muss ich auch überhaupt nicht mehr haben. Aber leider kann man dem nicht immer aus dem Weg gehen. Deshalb ist es für mich auch wichtig, lieber einen schönen Job mit kollegialen KollegInnen zu haben und dafür weniger Geld, als umgekehrt!

  3. Interessanter Ansatz, wenn man dem Buch etwas Gutes (außer des sehr guten Aufbaus) abgewinnen möchte. Für mich war dafür aber zu viel Nähe der Autorin zu ihren Figuren, eine zu eindeutige Identifikationsaufforderung im Spiel, so dass ich eine zu große Abwehrhaltung aufbaute, um so etwas wie kognitiven Dissonanz zuzulassen. Aber wie gesagt, interessanter Ansatz. Danke dafür! Viele Grüße!

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