Bücher, in denen es um den Verlust geliebter Menschen geht, sind für mich oft heikel und eigentlich mache ich um die Thematik einen mehr oder minder großen Bogen. Doch ab und zu gibt es ein Buch, dass trotzdem bei mir auf dem Lesestapel landet. Das letzte Mal war es „Vom Ende der Einsamkeit“ – diesmal ist es „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“, das dank der Empfehlung von Yvonne vom Lecture of Life-Blog den Weg zu mir fand. Danke dafür!
An dieser Stelle auch ein herzliches Dankeschön an den Eisele Verlag, der mir über NetGalleyDE das Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Worum geht es?
1987 in New York: June Elbus ist 14 und eine Außenseiterin. Sie liebt das Mittelalter, den Wald und den einzigen Menschen, der ihre Eigenheiten versteht – ihren Onkel Finn. Finn ist ein berühmter Maler und todkrank. Am Ende seines Lebens malt er von June und ihrer älteren Schwester Greta ein Gemälde. Doch er hinterlässt nicht nur dieses Bild, sondern auch allerlei Geheimnisse und Rätsel. Während June mit dem Verlust ihres Onkels und den Sticheleien ihrer Schwester kämpft, erhält sie eine Nachricht von Toby, einem Mann, der behauptet Finn ebenso gut zu kennen wie June ihn kannte. Doch kannte June Finn überhaupt? Wenn sie ihn kannte, warum hatte er dann so viele Geheimnisse? Ist Toby der Schlüssel dazu?
Mein Eindruck:
Der Verlust eines geliebten Menschen, Konflikte in der Familie, Aids – all diese Themen könnten schnell zu einer Mischung aus negativen Emotionen führen, die jegliches Lesevergnügen unterbindet. Carol Rifka Brunt schafft es mittels der stets in ihrer Sprache mitschwingenden Leichtigkeit, die schweren Umstände in Junes Leben dennoch nicht erdrückend wirken zu lassen. June mag dabei in vielerlei Hinsicht – in Bezug auf die Krankheit ihres Onkels, auf das Gefühlsleben ihrer Schwester und auch auf Toby – immer ein wenig naiv wirken, doch genau diese leicht kindliche Naivität ist nötig, um das ganze Gefühlschaos glaubhaft zu transportieren.
Gemeinsam mit June wird man als Leser*in in einen Mahlstrom der Gefühle gezerrt, schwankt zwischen Trauer und Glücksgefühlen, Neugier und Unverständnis, Verletzlichkeit und diesen ersten aufblitzenden Momenten als Teenager, wenn man ganz genau weiß: Das bin ich. So bin ich richtig und so will ich bleiben. – Nur um dann, keine zwei Seiten weiter, wieder in andere Emotionen hineingeworfen zu werden.
Es ist nur schwer vorstellbar, welchem Stigma Menschen mit Aids in den 80er Jahren ausgesetzt waren – und es heute wohl auch leider noch immer sind. Damals mag es am mangelnden Wissen über die Krankheit gelegen haben, aber ich fürchte, die Situation ist für viele auch heute noch nicht viel leichter, wenn auch die Medikamente besser sind. Die Figurenkonstellation im Buch unterstreicht diese Tragik: Finns Schwester – Junes Mutter – bekommt den Namen der Krankheit kaum über die Lippen und möchte (nicht nur) diesen Teil des Lebens ihres Bruders am liebsten totschweigen. June, die ihren Onkel einfach so akzeptiert wie er ist, stellt hierbei einen erfrischenden Gegenpol dar. Carol Rifka Brunt zeigt über diese so völlig verschiedenen Verhaltensweisen, wie unterschiedlich man an die schwierigsten Themen herantreten kann – und welche Herangehensweise im Endeffekt vielleicht glücklicher macht.
Ich kann nicht beurteilen, wie das Buch in der LGBT*-Community aufgenommen wird und ob die in der Geschichte dargestellten Umstände der damaligen Realität entsprechen bzw. ob die emotionalen Aspekte dem nahekommen, was Menschen, die vom HI-Virus betroffen sind, damals und heute erlebt haben und noch erleben. Dies gilt auch in Hinblick auf das Thema representation, d. h. die Darstellung der LGBT-Community in der Literatur. Ich für meinen Teil finde es sehr gut, wie Carol Rifka Hunt Finns Homosexualität und seine Krankheit im Buch dargestellt hat: Finns Charakter wird nicht über seine Homosexualität definiert – auch wenn sie, was im Buch deutlich wird, ein großer Teil seines Lebens ist. Vielmehr definiert sich seine Bedeutung für June – und damit auch sein Charakter – durch seine Herzensgüte, durch sein Verständnis und durch seine Weisheit. Finn ist eine vielschichtige Figur, die nicht allein auf die Sexualität reduziert wird. Genau diese Normalität wünsche ich mir in viel mehr Büchern, damit Leser*innen der LGBT-Community sich in der Literatur viel häufiger selbst wiederfinden – so wie ich es ja auch kann.
Trotz der Trauer um Finn fand ich die Szenen mit June und Greta noch emotionaler und – um ehrlich zu sein – schwieriger zu lesen. Schwestern können grausam zueinander sein, das weiß jeder. Ich selbst bin die kleine Schwester und habe viele Parallelen in den Verhaltensweisen zu meinem eigenen Leben finden können. Spitzfindige Kommentare hören, das Gefühl, keinen Einblick in wichtige Themen zu haben, nie das letzte Wort haben dürfen – all diese Dinge gehörten auch zu meinem Leben, obwohl meine Schwester und ich uns lieben und auch ein Herz und eine Seele sein können. Aber – und das merkt man auch bei June und Greta – wenn der gleiche Genpool zweimal existiert, gibt es nunmal Reibereien. Dass dabei keiner unverletzt herauskommt, das erzählt Carol Rifka Brunt eben auch. Es gibt nie „die gute“ oder „die böse“ Schwester – es gibt immer nur zwei Menschen, die oft im gleichen Netz aus Sorgen und Nöten gefangen sind.
*Es gibt verschiedene Abkürzungen. Diese ist mir die geläufigste – ich möchte damit jedoch niemanden unbeabsichtigt ausschließen. Deshalb schreibt mir bitte gerne, wenn eine andere Abkürzung besser wäre.
Fazit:
Bei nur wenigen Büchern lache ich erst mit den Figuren und weine dann, keine zwei Seiten weiter – nur um sofort wieder lächeln zu können. Geschwisterliebe, die erste Liebe, schwere Krankheit und tragischer Verlust: In diesem Buch sind all diese Themen vereint, lassen einen von der ersten Seite an nicht los und am Ende ist einem doch ein wenig leichter ums Herz. Was für ein Buch!
5 von 5 Sternen.
Mehr zum Buch:*
- Preis: 22€
- Gebundene Ausgabe: 448 Seiten
- Verlag: Eisele Verlag (23. Februar 2018)
- Sprache: Deutsch
- ISBN-10: 396161007X
- ISBN-13: 978-3961610075
- Originaltitel: Tell the wolves I’m home
- Übersetzerin: Frauke Brodd
Liebe Sarah,
ich hatte mich auch für das Buch interessiert, habe es aber letztendlich wieder von meiner Wunschliste gestrichen, da ich Angst vor den Emotionen zu dieser schrecklichen Krankheit habe und generell Bücher und Filme über Krankheiten vermeide. Sollte ich es dennoch lesen? Schließlich ist ein Schulfreund an dem Hi-Virus schon in den 90-ern erkrankt und die Beschreibung der LGTB-Commuinity im Buch reizt mich schon.
Lieber Gruß,
Simone.
Hallo Sarah,
vielen Dank für diese tolle Rezension die mich dieses besondere Literaturschmankerl entdecken ließ. Es wanderte sogleich auf meine WL. Die Thematik ist sicher nicht leicht und doch etwas besonderes, wenn sie gut umgesetzt wurde, und anscheinend hat dies die Autorin geschafft. Ich werde es nach dem Lesen dann wohl meiner kleinen Schwester weiterreichen *g*.
Liebe Grüße aus Wien
Conny
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